Freitag, 1. November 2013

Unbekannter Herkunft























Auch wenn er keine Uhr mehr trug, weil er die Uhrzeit ja im Handy finden konnte, und hier keine hing, war er sich sicher, dass es auf seinen Feierabend zuging, eine Stunde vielleicht noch, draußen dürfte es bereits dämmrig sein, vielleicht sogar dunkel. Bald schon würde es ausreichen, dass nur zwei Kolleginnen den Laden betreuten, da nur noch einzelne Kunden vorbei kamen. Jetzt würde in der fast noch neuen, weil erst ein halbes Jahr alten Passage, dem Stolz der Ratsherren, das Geschäft mit Getränken und Speisen noch einmal kurz aufblühen, die Tageskasse retten und die Angestellten, zumeist 400-Euro-Jobber über die zwischenzeitliche Langeweile hinweg trösten.
Die Frau erschien ihm älter zu sein, wahrscheinlich bereits Großmutter, gediegen gekleidet, nicht teuer aber geschmackvoll im Stil der Alten. Gedämpfte Töne, dichte Farben und Stoffe, perfekt verhüllt. So dachte der Buchhändler gegenüber der Eisdiele als er sie zwischen den Bücherstapeln ziellos herumlaufen sah. Da der Eingangsbereich sehr breit und offen war um die Kunden förmlich in den Bookstore, so hieß das in diesen Tagen, hinein zu ziehen, hatten alle Angestellten die strikte Weisung jeden Kunden dort genau zu beobachten und auf diese Weise die Ladendiebstähle so gering wie möglich zu halten.
Diese Frau sah ihm nicht nach einer Buchdiebin aus, aber wer sah schon danach aus. Ihm kam es so vor, als wenn sie sich eher zu ihnen hin verirrt hatte, als das sie wirklich nach einem Buch suchte. Obwohl er mehrere Kunden zu bedienen hatte, vor allem Frauen, nur einen Mann, um diese Zeit eher normal, auch die kleinen Kinder und Kinderwagen mit denen diese Frauen die schmalen Wege zwischen den Büchertischen versperrten, ließ er die ältere Dame, ja so war die Beschreibung wohl korrekt, nicht aus den Augen. Er war sich sicher, sie noch nie zuvor gesehen zu haben, was aber auf viele Kunden zu traf, besuchten doch vor allem Auswärtige die Passage. Gelegenheitskunden, mal Schmetterling, mal Vampir, oft nur wie die kleinen Wölkchen an dem windgestressten Himmel über dieser norddeutschen Stadt. Kaum wahrgenommen schon vergessen. Nicht so diese Dame. Obwohl ihm völlig unbekannt, kam sie ihm doch mehr als vertraut vor, ihre Kleidung, ihr vom Friseur mit Lockenwicklern aufgepepptes Haar, ihr zeitloses Brillengestell. Vielleicht hatte sie ja den Optiker zwei Läden weiter aufgesucht, sich diese mit neuen Gläsern fertig machen lassen, ja, solche Brillen zum Niedrigpreis führte der. Preiswert, nicht billig, wie seine Werbung versprach. So wie sie sahen die Frauen ihres Alters auch in seiner Familie aus Buchhändlern, Lehrern und Ingenieuren aus. Früher bekamen die Frauen jenseits der Vierzig diese Kleidung bei dem großen Textilkaufhaus mit holländischen Vorfahren. Wo heute, war ihm nicht bekannt. Diese Qualität von früher führten die nicht mehr, wurde geklagt. Klagte auch diese Frau darüber? Hier in der Passage dürfte sie jedenfalls nicht fündig werden. Wusste sie das nicht, hatte sie tatsächlich gehofft für ihr Alter und ihre Figur etwas Schickes zu finden, vielleicht für eine Hochzeit oder den Urlaub?
Oder hatte sie sich mit ihren Töchtern verabredet, oder einer Tochter mit Enkelkind und diese hatten sich verspätet. Wahrscheinlich war es so, denn plötzlich ging die in seinen Augen fast perfekte ältere Dame zielstrebig aus dem Laden heraus ohne links und rechts, geschweige denn zu ihm hin zu sehen. Er konnte von der Kasse aus noch sehen, wie sie das Geländer um die Rolltreppen herum schritt und die Eisdiele betrat. Von da an ließ er sie in Ruhe, war sie doch keine mögliche Kundin oder, was ihm aber jetzt noch mehr unmöglich schien, keine Ladendiebin mehr. Nur eine von den vielen, die hier zwischen den Büchertischen sich die Zeit vertrieben und ganz selten einmal sich verführen ließen ein Buch zu erwerben, meistens dann als Geschenk, wahrscheinlich als Vorrat für Geburts- und Festtage. Seine Mutter und ihre Schwestern hatten es jedenfalls so gehalten und damit eine zwar allen bekannte, aber nicht und niemals zu berührende Kiste bestückt mit günstigen Gelegenheitsfundstücken, die dann bei entsprechenden Anlässen im Familienkreis ihren Auftritt bekamen.
Die Dame wurde jetzt von Norbert, dem Kellner der Eisdiele, registriert und taxiert. Der hieß Norbert, obwohl viele meinten , er müsse Luigi heißen, denn so sah er aus, schwarz- und kraushaarig, gebräuntes schmales Gesicht mit sehr lebendigen und fröhlichen Augen, so aussehend wie viele hier sich einen italienischen Kellner vorstellten und auf keinen Fall einen Norbert.
Dieser Norbert dachte sofort ähnlich über sie wie der Buchhändler von gegenüber, ein ihm mittlerweile vertrautes Wesen, von ihm aus gesehen aber nur mit Kopf und Schultern ausgestattet. Kassentresen und Kunden verdeckten den meist. Sie hatten noch nie miteinander gesprochen, da der Buchhändler wohl kein Eis mochte und auch kein Getränk von der Getränkekarte oder vielleicht einfach nur alles hier als Arbeit ansah und darum lieber schnell in den Feierabend verschwand. Noch nie, von ihm durchaus gleichgültig zugegeben, hatte seinerseits Norbert den Buchladen betreten, schon gar nicht ein Buch dort gekauft. Die paar Bücher zu Hause hatten ihm Eltern und Freundinnen geschenkt, nein, zwei waren von Freunden. Gelesen hatte er die Bücher, aber trotzdem nie dadurch den Wunsch bekommen, sich selber Bücher zu kaufen.
Auch er meinte die Frau noch nie gesehen zu haben und auch ihm war ihr Erscheinungsbild zugleich sehr vertraut. Von ihrer Sorte kamen oft welche in seine Eisdiele, zumeist mit Frauen im gleichen Alter, sich Zeit nehmend, plaudernd, wahrscheinlich beim Austausch von Tratsch und Klatsch. Diese hier aber kam allein, setzte sich nicht, lief quer durch die Eisdiele und kam genau so unsicher wirkend zurück. Suchte sie jemanden? Hatte sie sich verabredet?
Im Gegensatz zum Buchhändler sprach Norbert nach den mehrmaligen hin und her Wanderungen die Dame an.
„Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“
„Kenne ich Sie junger Mann?“
„Nein, ich glaube nicht. Alle sagen Norbert zu mir.“
„Norbert, sind sie da ganz sicher?“
„Ja, warum?“
„Nein, Norbert sind sie nicht. Sie sehen nicht wie er aus. Norbert war blond, dick und schwitzte. Schwitzen Sie?“
Norbert schüttelte den Kopf und sah sie genauer an, versuchte in ihre Augen hinter den Gläsern zu blicken.
„Wollen Sie sich nicht einen Moment setzen. Sie können hier warten.“
„Ich warte nicht junger Mann. Sehe ich so aus als wenn ich warte?“
Wieder wollte er spontan den Kopf schütteln, fast gehorsam ihr zugewandt, nickte dann aber doch.
„Ja, ich dachte, sie suchen jemanden.“
„Junger Mann, das hier, wo ist das, wo kommt das alles her?“
Sie zeigte sichtlich erbost um sich herum.
Norbert verstand. Das kam öfter vor, dass die alten Leute in der Passage plötzlich das Gefühl hatten, nicht mehr zu wissen wo sie sich befanden, da es so etwas wie dieser Einkaufstempel zuvor in der kleinen Stadt am großen Kanal nicht gegeben hatte. Diese Frau hier kannte bestimmt nur die alten Baracken, in denen zuletzt Flüchtlinge auf ihre Aufenthaltserlaubnis oder Abschiebung warten mussten, davor die Flüchtlinge, da war er selber noch nicht geboren, und vor denen im Adolf-Reich die KZ-Häftlinge, keine Juden, die hatten sie wohl schon alle wegtransportiert, nur die Politischen und die Kriegsgefangenen. Und jetzt bestimmt bei ihr der Schock über das neue Wahnsinnsgebäude, dass fast ein Fünftel der Stadt einnahm und an nichts mehr erinnerte, was unter ihrem kellerlosen Boden für Geschichte lag. Er selber dachte nie daran, im Geschichtsunterricht hatte es ihn schon angeödet. Heute ist heute, Vergangenheit tot, schlimm genug wie unsicher die Zukunft heute war.
„Sie sind in der neuen Passage. Sehen Sie, da geht es weiter zum Ausgang Richtung Bahnhof und in der anderen Richtung kommen sie zum Ausgang Richtung Rathaus.“
„Aha, zum Bahnhof, das ist gut.“
Sie ließ Norbert, der eigentlich Luigi heißen müsste, wenn es nach den Besuchern der Eisdiele ginge, einfach stehen und ging, ja stolzierte mit hochgezogenen Schultern in die Richtung, die er ihr als die zum Bahnhof gezeigt hatte.
„Danke“, sagte er leise zu sich selbst, schüttelte den Kopf und vergaß sie angesichts dreier hübscher Stadtmädels, die oft zu ihm kamen und immer mit ihm flirteten.
Eine, die frechste, rief bereits „Luigi, pronto!“ und lachte ihn herzlich an.
Die Dame schaffte es bis zum Ausgang, betrat die Straße, registrierte kaum die Dunkelheit, die grellen Lichter, die sie durchstießen, die meisten in dem Versuch auf eine Dekoration aufmerksam zu machen. Dies hier kam ihr immerhin bekannt vor und sie erkannte auch sofort rechts das warme Rot der Backsteinfassade des Bahnhofs. Ohne sich um zu sehen ging sie entschlossen auf das Gebäude zu, überquerte zügig den Zebrastreifen, was den Fahrer eines silbermetallic Cabrios dazu zwang in die Bremse zu treten und ging die Stufen hoch, betrat die Wartehalle und blieb erst nach dem Verlassen derselben am Bahnsteig stehen. Hier sah sie sich wieder um, nach beiden Seiten, das erste Mal nach dem Verlassen der Eisdiele hatte sie wieder das Gefühl sich hier nicht aus zu kennen. Alles hier war verändert worden, nicht unschön, im Gegenteil, es gefiel ihr, aber trotzdem war es fremd.
Ratlos drehte sie sich um und ging zurück durch das Gebäude zum Bahnhofvorplatz. Erst jetzt sah sie, dass auch hier nichts mehr war, wie in ihrer Erinnerung. Doch, das Hotel gegenüber, der Kasten war so gräulich wie immer. Daher ging sie wieder über den Zebrastreifen und betrat den Eingang, der sie aber nicht zum Hotel, sondern in die Gaststätte führte. Irritiert blieb sie daher stehen und sah sich verzweifelt um. Eine junge Kellnerin entdeckte sie und kam sofort auf sie zu.
„Kann ich Ihnen helfen?“
„Heißen Sie angeblich auch Norbert?“
Die Dame sah die Kellnerin streng an. Diese lächelte
„Nein, wieso?“
„Dann ist gut. Ich suche den Bahnhof. Ich glaube, ich muss zum Zug.“
„Der ist da drüben.“ Die Kellnerin zeigte in die Richtung, sah dabei die Dame misstrauisch geworden an. Sie hatte Erfahrung mit Demenz, ihr Vater litt seit einiger Zeit unter dieser in ihren Augen fürchterlichste aller fürchterlichen Krankheiten.
„Da war ich. Aber es kam kein Zug.“
„Wohin müssen Sie denn?“
Die Dame schilderte ihr den Ort, kurz und knapp. Die Kellnerin nickte.
„Das ist ganz einfach. Wenn Sie in den Tunnel gehen, finden sie rechts eine Treppe. Die führt zum Bahnsteig.“ Sie sah zur Uhr über dem Eingang. Die hing dort für die Gäste, die hier nur auf den Zug warteten und sich dabei ein wenig stärken wollten.
„Der nächste kommt in zehn Minuten. Das schaffen sie bequem.“
Die Dame nickte, drehte sich um und verließ das Haus mit ihren energischen Schritten. Diesmal kam kein Auto, so dass keiner für sie bremsen musste beim Überqueren des Zebrastreifens.
Sie wandte sich nach links zu der Unterführung und ging die breit und sanft sich absenkende und verengende Fläche hinunter bis sie, schon fast vor der Treppe, plötzlich abrupt stehen blieb.
Sie blieb wirklich stehen. Ganz steif, wirklich regungslos, so empfand es jedenfalls der große und stark beleibte Mann in der dunkelblauen Uniform einer Securityfirma, der vor dem Bahnsteigfahrstuhl für die Rollstuhlfahrer stand und hoffte, dass nichts geschehen möge, was ihn dazu zwingen könnte, seine in der viel zu kurzen Ausbildung erworbenen Fähigkeiten, von denen er ganz und gar nicht überzeugt war, sie auch nur im Ansatz so nennen zu können, anzuwenden, wahrscheinlich vergeblich und mit schlechten Ausgang für ihn.
Diese ältere Dame, „bestimmt eine Großmutter, vielleicht schon Witwe, „die Frauen leben ja einfach länger als wir Männer“, dachte er, „die steht komisch da. Was hat sie nur? Warum geht sie nicht weiter?“
Er rührte sich aber nicht, sah nur besorgt zu ihr hin, die rechte Hand vorsichtshalber am Handy, bereit sofort den Notdienst an zu rufen, möglicherweise fiel sie ja gleich um.
Genau das tat die Dame nicht. Stattdessen schrie sie plötzlich laut um Hilfe, ein Arm samt Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger zeigte dabei auf ihn, den Securitymann.
Sie sah ihn, sah den Tunnel ängstlich an, trotz seinem eher fröhlich in Grün-Rot changierendem Licht einladend, jedenfalls wenn es nach dem Willen des für diesen Tunnel preisgekrönten Architekten ging, wirkenden Durchganges von der Innenstadt hinüber in die eingemeindeten Exdörfer, nun Stadtteile im vergeblichen Bemühen, ihre alte Identität zu bewahren.
Sie schüttelte sehr kräftig und schnell den Kopf, schrie, zeigte mit dem Finger, schrie.
Da war er wieder. Der Kollege des Vaters, groß und schwer, stinkend, gierig, brutal, über ihr, überall, in ihr, diese Schmerzen, Schmerzen, danach die Scham, die Angst, die Tage voller Trauer, voller Angst, die Zeit, bis sie es endlich verpackt hatte, ganz weit weg, nie wieder hervor gezogen, nie wieder betrachtet oder abgewogen. Nie wieder, bis jetzt, bis hier der Tunnel wieder da war, der Kollege, alles.
Sie wusste nicht, dass dieses das bösartigste Geschenk der Krankheit war, die sich in ihr ausbreitete ohne Schmerzen, ohne sichtbare Verformungen oder Bruchstellen. Eine Krankheit im Kopf und in der Seele. Es war das Endstadium, dass sie zu kosten bekam, die Zeit, in der ihr nur noch die Bilder ihrer Kindheit blieben, die grausamen, die schlechten und alles sich in Angst auflösen würde, bis nur noch die Angst blieb, Schemen sie jagen würden, Dunkelheiten, mächtige Feuer, Gewitter, das Fegefeuer konnte nicht schlimmer sein.
Noch aber sah sie Gesichter, Gegenstände, ihre Umgebung, den Tunnel, den Securitymann, nur dass der jetzt dieser Kollege von ihrem Vater war. Es war alles wieder genauso und doch war etwas anders. Sie konnte weglaufen, vielleicht kam er dieses Mal nicht hinter ihr her, fiel nicht über sie her, drang nicht in sie ein. Vielleicht. Wenn sie nur schnell genug lief. Noch schneller. So schnell wie nie zuvor.
Sie drehte sich um, rannte los, der Securitymann hinter ihr her. Er ahnte, dass da etwas fürchterlich schief zu laufen begann. Er wollte die Frau stoppen, bevor sie auf die Bahnhofstrasse kam. Um diese Zeit war hier viel Verkehr und die Frau wirkte nicht so, als wenn sie darauf achten könnte. Er rannte, so schnell er es mit seiner Beleibtheit und den durch seine Selbstgedrehten bereits beschädigten Bronchen und Lungenflügel vermochte. Es war ihm, als renne er hinter seiner eigenen Großmutter hinterher. Und er verspürte Angst.
Er holte sie nicht ein. Sie war einfach schneller, trotz ihrer Kraft, die sie zugleich für ihre Schreie aufbrachte. Inzwischen hatten sich alle, die sich in Sichtweise zu ihr auf dem Bahnhofsgelände befanden in ihre Richtung gewandt. Aber niemand rannte los wie der Securitymann, niemand stand nahe genug sie auf zu halten.
Die Kellnerin im Hotelrestaurant hatte zufällig bei der Bedienung eines frisch verliebten Paares aus dem Fenster und die Frau gesehen, aber sich nur über deren Aussehen und Verhalten gewundert, musste dann den Blick aber schnell abwenden und die Teller abstellen. In dem Moment, in dem sie den glücklich lächelnden jungen Leuten „Guten Appetit“ wünschen wollte, quietschten Reifen auf der Straße, gab es ein nur schwach von ihr hörbares, dumpf klingendes Geräusch von dem Aufprall der Dame an dem alten Opel, der in der Hoffnung seines Besitzers noch lange seine Technik zu seinen Gunsten leisten sollte, was ihm nach dem Aufprall, dem Anblick des Gesichtes der Frau vor seiner Frontscheibe ab diesem Moment für immer egal sein würde.
Auch der Securitymann wäre fast gegen den Opel geprallt, kam er doch fast, aber nur fast gleichzeitig mit ihr auf der Straße an und schaffte es nur mit Mühe im Abbremsen sein Gleichgewicht zu halten, zugleich entsetzt womöglich auf die arme Frau zu fallen mit seinem Gewicht.
Erst jetzt bewegten sich auch einige von den Zusehenden in ihre Richtung, zutiefst erschrocken und zugleich neugierig, unsicher ob da Hilfe an zu bringen oder noch sinnvoll sein könnte.
Der Fahrer blieb erst einmal sitzen, sah auf seine zitternden Hände, spürte den Schweiß auf der Stirn und ein sehr unangenehmes Gefühl im Magen. Er schloss seine Augen, da ihm schwarz wurde und öffnete sie gleich wieder, da er das Karussell seines Kreislaufes fürchtete und hoffte mit offenen Augen dieses besser zu überstehen. Der Securitymann öffnete die Fahrertür und zog ihn vorsichtig hinter dem Lenkrad hervor nach draußen. Der Fahrer ließ es gefallen, war erleichtert, dass sich jemand um ihn kümmerte, versuchte zu stehen, schaffte es in dem er sich mit dem Rücken an den Wagen lehnte. Von dort sah er zu den Schuhen hin, in denen wohl die Füße der Dame steckten, deren Körper regungslos vor seinem Wagen lag.
Jemand musste schnell geschaltet und einen Notruf über Handy oder I-Phone losgelassen haben, denn schon war die Sirene eines Krankenwagens und kurz danach eines Polizeifahrzeuges zu hören, die in kurzem Abstand hinter dem Unglücksfahrzeug hielten. Die Ärztin, sichtbar müde und nervös, drängte sich an den Leuten vorbei, sah nur kurz zu dem mittlerweile sehr bleichen Fahrers hin und untersuchte das nun schon nur noch Unfallopfer genannte menschliche Wesen, immer führerscheinlos, weil die ältere Dame, die sie kurz davor noch in den Augen einiger gewesen war, immer schon etwas gegen Technik gehabt hatte und lieber mit dem Fahrrad oder Zug fuhr. Jetzt war sie nichts mehr von alledem, nur noch Unfallopfer und tot, somit Bestandteil der seit Jahrzehnten überall im Land penibel geführten Unfallstatistik und schwächte in diesem Jahr die Chance, auf bessere Ergebnisse, weil weniger tödliche Unfälle. Das war den Teilnehmern dieser Szene völlig egal, es dachte auch niemand daran, eher an das Glück, nicht selber dort zu liegen, vielleicht an die Angehörigen und ein klein wenig auch an die Frau, wer sie wohl gewesen sein mochte, ob sie glücklich gewesen war oder nicht und wie schmerzlich die Trauer sein würde an ihrem Grab.
Als der Buchhändler seinen Heimweg anradelte, dafür zum Bahnhof und durch den Tunnel glitt, sah er den Krankenwagen, den Auflauf, dachte aber nicht mehr an die umher irrende ältere Dame und schon gar nicht, dass sie womöglich der Anlass war, für das was er mit raschen Tritten in die Pedale hinter sich ließ in der Vorfreude auf einen neuen Krimi der beiden der Ironie so wunderbar verhafteten Autoren aus dem Allgäu, wo er mit seiner Frau seit Jahren schon den Sommerurlaub mit Wanderungen und einheimischen Speisen und dunklen Bieren verbrachte.
Norbert, der eigentlich Luigi heißen müsste bekam von alledem erst gar nichts mit, genoss die scherzhafte Zuwendung der drei Mädels und hörte erst bei der feierabendlichen Kassenabrechnung, dass vor dem Bahnhof eine Oma vor ein Auto gelaufen sei und sofort verstorben. Aber Norbert kam ebenfalls nicht auf die Idee, dass es sich um die Dame handeln könnte, die dagegen gewesen war, dass er Norbert war und sein wollte.
Nach der Feststellung der Todesursache „Genickbruch in Folge des Aufpralls“ untersuchte die Ärztin den Fahrer, diagnostizierte „Schock und aufgrund starker Bremseinwirkung ein Schleudertrauma“, letzteres bescherte dem Fahrer ein paar Wochen lang eine ihn sehr nervende Halskrause, und bei dem Securitymann, der völlig verunsichert da geblieben war, nicht weiter den Tunnel mit seiner körpergewaltigen Anwesenheit beschützt hatte, hielt sie ebenfalls „Schock“ fest und mit dieser Diagnose und der schlecht geschlafenen Nacht danach ging er zu seinem Arzt, der ihn sofort für eine Woche von seinem Dienst befreite.
Der Unglücksfahrer ließ sich von seiner Frau abholen, die den Wagen nach Abschluss der polizeilichen Untersuchungen zurück fuhr, damit ein letztes Mal, denn schon drei Wochen später gelang es ihnen den Opel für 500 Euro los zu werden.
Die beiden Streifenpolizisten waren noch lange nach dem Unfall mit der Frau beschäftigt, da sie keine Papiere bei ihr gefunden hatten und niemand sich meldete, der über ihr Verbleiben besorgt war.
In einer weit entfernten Stadt stapelte sich in einer kleinen Seniorenwohnung die papierne Werbung der Supermärkte, Glücksspielanbieter und Fachmärkte auf dem Flur. Beim Vermieter hingegen stapelte sich auf dessen Konto nichts, zumindest nicht mehr die Mieteinnahmen von diesem Objekt, wie es in seiner Sprache hieß, und so ließ er die Wohnung eines Tages aufbrechen. Aber auch er fand keinerlei Hinweise auf ihre Herkunft, somit auch keine Verwandten an die er sich wegen der mittlerweile nicht unerheblichen Mietrückstände hätte halten können. Sie hatte schon länger in der Wohnung gelebt und darum fiel es dem Vermieter schwer, sich an ihr Aussehen zu erinnern. Er hatte sie ja nur kurz bei dem Abschließen des Mietvertrages gesehen. Auch der Hausmeister hatte nur eine vage Erinnerung, irgendwie gut gepflegt, unauffällig, eher grau, ja, graue Maus. Alt eben.
Zwar informierte der Vermieter die Polizei, vielleicht dass diese jemanden auftrieben, da er aber keine brauchbaren Hinweise geben konnte, wusste man auf der Wache nicht, wie sie nach der Dame suchen sollten.
Ein Abgleich der in der Wohnung gefundenen Fingerabdrücke hatte den ermittelnden Beamten auch nichts erbracht. Und so geriet der Vorgang schneller in Vergessenheit als er entstanden war. Nur der Vermieter dachte aufgrund der ihm abhanden gekommenen Summe noch öfter daran, wenn auch ohne das Gesicht einer Person für seinen Ärger zu haben.
Die Polizisten in der Stadt ihres so brutalen, heftigen Ablebens hatten ebenfalls Fingerabdrücke genommen. Aber auch sie fanden keine anderen, mit den ihren Übereinstimmenden. Die Kellnerin hätte ihnen zumindest die Stadt nennen können, falls sie sich die gemerkt hatte, aber da sie als Zeugin sich nicht gemeldet und auch keine Ahnung von den Problemen der Polizei hatte, durch nichts mit der Frau in Verbindung gebracht werden konnte und sie auch keine Zeitung las, lieber auf Facebook sich informierte, wo die Polizei keine Informationen hinterlassen hatte, gab es für sie keinen Grund, auf der Wache vorstellig zu werden und zur Aufklärung der Herkunft bei zu tragen.
Schließlich übernahm das Sozialamt der Stadt die Beerdigung, zu der weder Norbert, noch immer kein Luigi, noch der Buchhändler, der Unglücksfahrer oder der Securitymann erschienen, da die Stadt zwar eine Todesanzeige geschaltet hatte, als letzten Versuch einem Angehörigen die Möglichkeit zu geben, den Tod der alten Dame zu registrieren und vielleicht traurig aber in Verbundenheit mit der Toten die Beerdigungskosten zu übernehmen, die Männer aber, die ihr als letzte begegnet waren, nicht ahnen konnten, dass sie die Unbekannte sein könnte, denn danach hatte sie nun wirklich nicht ausgesehen, dass sie völlig allein durch dieses Leben surfte, so jedenfalls hätte es die drei scherzenden Mädels in Norberts Eisdiele ausgedrückt. Es war, als hätte das Leben selbst, zumindest in ihrem Fall, der bald darauf geschlossenen Akte „unbekanntes Unfallopfer Bahnhof“, selber jene Krankheit bekommen, deren Aufflammen im Tunnel sie umkommen ließ, bevor sie das ganze Ausmaß erleiden musste. Wie sich diese Krankheit in der Gesellschaft entwickelt, bleibt ab zu warten, vorläufig jedenfalls schmunzelt der Buchhändler weiter bei seinen Allgäukrimis neben seiner Frau im ehelichen Bett und Norbert freut sich weiter jeden Tag auf die Flirtmädels mit ihren Scherzen, so lange zumindest, bis alles sich wieder zu größerer Veränderung hin bewegt. Der Kellnerin ist vier Wochen danach die Diagnose „Brustkrebs“ eröffnet worden, was sie dazu brachte das erste Mal in ihrem Leben wirklich für das Leben sich zu entscheiden und zu kämpfen. Sie begann damit, ihren Verlobten davon zu treiben und schaffte es tatsächlich die Krankheit mit Unterstützung von Ärzten und Therapeuten zu überwinden. Daher ist sie in dem Hotelrestaurant nicht mehr zu finden. Sie hat sich selbst weiter bilden lassen zur „Heilerin“, hatte sie doch Kräfte während des Kampfes gegen den Krebs in sich entdeckt, die sie nun auch anderen Menschen zu Gute kommen lassen will.

© bild + text jörn laue-weltring lingen 2013

Keine Kommentare: