Auch
wenn er keine Uhr mehr trug, weil er die Uhrzeit ja im Handy finden konnte, und
hier keine hing, war er sich sicher, dass es auf seinen Feierabend zuging, eine
Stunde vielleicht noch, draußen dürfte es bereits dämmrig sein, vielleicht
sogar dunkel. Bald schon würde es ausreichen, dass nur zwei Kolleginnen den
Laden betreuten, da nur noch einzelne Kunden vorbei kamen. Jetzt würde in der fast
noch neuen, weil erst ein halbes Jahr alten Passage, dem Stolz der Ratsherren, das
Geschäft mit Getränken und Speisen noch einmal kurz aufblühen, die Tageskasse
retten und die Angestellten, zumeist 400-Euro-Jobber über die zwischenzeitliche
Langeweile hinweg trösten.
Die
Frau erschien ihm älter zu sein, wahrscheinlich bereits Großmutter, gediegen
gekleidet, nicht teuer aber geschmackvoll im Stil der Alten. Gedämpfte Töne,
dichte Farben und Stoffe, perfekt verhüllt. So dachte der Buchhändler gegenüber
der Eisdiele als er sie zwischen den Bücherstapeln ziellos herumlaufen sah. Da
der Eingangsbereich sehr breit und offen war um die Kunden förmlich in den Bookstore,
so hieß das in diesen Tagen, hinein zu ziehen, hatten alle Angestellten die
strikte Weisung jeden Kunden dort genau zu beobachten und auf diese Weise die
Ladendiebstähle so gering wie möglich zu halten.
Diese
Frau sah ihm nicht nach einer Buchdiebin aus, aber wer sah schon danach aus.
Ihm kam es so vor, als wenn sie sich eher zu ihnen hin verirrt hatte, als das
sie wirklich nach einem Buch suchte. Obwohl er mehrere Kunden zu bedienen hatte,
vor allem Frauen, nur einen Mann, um diese Zeit eher normal, auch die kleinen Kinder
und Kinderwagen mit denen diese Frauen die schmalen Wege zwischen den
Büchertischen versperrten, ließ er die ältere Dame, ja so war die Beschreibung
wohl korrekt, nicht aus den Augen. Er war sich sicher, sie noch nie zuvor
gesehen zu haben, was aber auf viele Kunden zu traf, besuchten doch vor allem
Auswärtige die Passage. Gelegenheitskunden, mal Schmetterling, mal Vampir, oft
nur wie die kleinen Wölkchen an dem windgestressten Himmel über dieser norddeutschen
Stadt. Kaum wahrgenommen schon vergessen. Nicht so diese Dame. Obwohl ihm
völlig unbekannt, kam sie ihm doch mehr als vertraut vor, ihre Kleidung, ihr
vom Friseur mit Lockenwicklern aufgepepptes Haar, ihr zeitloses Brillengestell.
Vielleicht hatte sie ja den Optiker zwei Läden weiter aufgesucht, sich diese
mit neuen Gläsern fertig machen lassen, ja, solche Brillen zum Niedrigpreis
führte der. Preiswert, nicht billig, wie seine Werbung versprach. So wie sie
sahen die Frauen ihres Alters auch in seiner Familie aus Buchhändlern, Lehrern
und Ingenieuren aus. Früher bekamen die Frauen jenseits der Vierzig diese
Kleidung bei dem großen Textilkaufhaus mit holländischen Vorfahren. Wo heute,
war ihm nicht bekannt. Diese Qualität von früher führten die nicht mehr, wurde
geklagt. Klagte auch diese Frau darüber? Hier in der Passage dürfte sie
jedenfalls nicht fündig werden. Wusste sie das nicht, hatte sie tatsächlich gehofft
für ihr Alter und ihre Figur etwas Schickes zu finden, vielleicht für eine
Hochzeit oder den Urlaub?
Oder
hatte sie sich mit ihren Töchtern verabredet, oder einer Tochter mit Enkelkind
und diese hatten sich verspätet. Wahrscheinlich war es so, denn plötzlich ging
die in seinen Augen fast perfekte ältere Dame zielstrebig aus dem Laden heraus
ohne links und rechts, geschweige denn zu ihm hin zu sehen. Er konnte von der
Kasse aus noch sehen, wie sie das Geländer um die Rolltreppen herum schritt und
die Eisdiele betrat. Von da an ließ er sie in Ruhe, war sie doch keine mögliche
Kundin oder, was ihm aber jetzt noch mehr unmöglich schien, keine Ladendiebin
mehr. Nur eine von den vielen, die hier zwischen den Büchertischen sich die
Zeit vertrieben und ganz selten einmal sich verführen ließen ein Buch zu
erwerben, meistens dann als Geschenk, wahrscheinlich als Vorrat für Geburts-
und Festtage. Seine Mutter und ihre Schwestern hatten es jedenfalls so gehalten
und damit eine zwar allen bekannte, aber nicht und niemals zu berührende Kiste
bestückt mit günstigen Gelegenheitsfundstücken, die dann bei entsprechenden Anlässen
im Familienkreis ihren Auftritt bekamen.
Die
Dame wurde jetzt von Norbert, dem Kellner der Eisdiele, registriert und
taxiert. Der hieß Norbert, obwohl viele meinten , er müsse Luigi heißen, denn
so sah er aus, schwarz- und kraushaarig, gebräuntes schmales Gesicht mit sehr
lebendigen und fröhlichen Augen, so aussehend wie viele hier sich einen
italienischen Kellner vorstellten und auf keinen Fall einen Norbert.
Dieser
Norbert dachte sofort ähnlich über sie wie der Buchhändler von gegenüber, ein ihm
mittlerweile vertrautes Wesen, von ihm aus gesehen aber nur mit Kopf und
Schultern ausgestattet. Kassentresen und Kunden verdeckten den meist. Sie
hatten noch nie miteinander gesprochen, da der Buchhändler wohl kein Eis mochte
und auch kein Getränk von der Getränkekarte oder vielleicht einfach nur alles
hier als Arbeit ansah und darum lieber schnell in den Feierabend verschwand. Noch
nie, von ihm durchaus gleichgültig zugegeben, hatte seinerseits Norbert den
Buchladen betreten, schon gar nicht ein Buch dort gekauft. Die paar Bücher zu
Hause hatten ihm Eltern und Freundinnen geschenkt, nein, zwei waren von Freunden.
Gelesen hatte er die Bücher, aber trotzdem nie dadurch den Wunsch bekommen,
sich selber Bücher zu kaufen.
Auch
er meinte die Frau noch nie gesehen zu haben und auch ihm war ihr Erscheinungsbild
zugleich sehr vertraut. Von ihrer Sorte kamen oft welche in seine Eisdiele,
zumeist mit Frauen im gleichen Alter, sich Zeit nehmend, plaudernd,
wahrscheinlich beim Austausch von Tratsch und Klatsch. Diese hier aber kam
allein, setzte sich nicht, lief quer durch die Eisdiele und kam genau so
unsicher wirkend zurück. Suchte sie jemanden? Hatte sie sich verabredet?
Im
Gegensatz zum Buchhändler sprach Norbert nach den mehrmaligen hin und her
Wanderungen die Dame an.
„Kann
ich Ihnen irgendwie helfen?“
„Kenne
ich Sie junger Mann?“
„Nein,
ich glaube nicht. Alle sagen Norbert zu mir.“
„Norbert,
sind sie da ganz sicher?“
„Ja,
warum?“
„Nein,
Norbert sind sie nicht. Sie sehen nicht wie er aus. Norbert war blond, dick und
schwitzte. Schwitzen Sie?“
Norbert
schüttelte den Kopf und sah sie genauer an, versuchte in ihre Augen hinter den
Gläsern zu blicken.
„Wollen
Sie sich nicht einen Moment setzen. Sie können hier warten.“
„Ich
warte nicht junger Mann. Sehe ich so aus als wenn ich warte?“
Wieder
wollte er spontan den Kopf schütteln, fast gehorsam ihr zugewandt, nickte dann
aber doch.
„Ja,
ich dachte, sie suchen jemanden.“
„Junger
Mann, das hier, wo ist das, wo kommt das alles her?“
Sie
zeigte sichtlich erbost um sich herum.
Norbert
verstand. Das kam öfter vor, dass die alten Leute in der Passage plötzlich das
Gefühl hatten, nicht mehr zu wissen wo sie sich befanden, da es so etwas wie
dieser Einkaufstempel zuvor in der kleinen Stadt am großen Kanal nicht gegeben
hatte. Diese Frau hier kannte bestimmt nur die alten
Baracken, in denen zuletzt Flüchtlinge auf ihre Aufenthaltserlaubnis oder
Abschiebung warten mussten, davor die Flüchtlinge, da war er selber noch nicht
geboren, und vor denen im Adolf-Reich die KZ-Häftlinge, keine Juden, die hatten
sie wohl schon alle wegtransportiert, nur die Politischen und die Kriegsgefangenen.
Und jetzt bestimmt bei ihr der Schock über das neue Wahnsinnsgebäude, dass fast
ein Fünftel der Stadt einnahm und an nichts mehr erinnerte, was unter ihrem
kellerlosen Boden für Geschichte lag. Er selber dachte nie daran, im
Geschichtsunterricht hatte es ihn schon angeödet. Heute ist heute,
Vergangenheit tot, schlimm genug wie unsicher die Zukunft heute war.
„Sie
sind in der neuen Passage. Sehen Sie, da geht es weiter zum Ausgang Richtung
Bahnhof und in der anderen Richtung kommen sie zum Ausgang Richtung Rathaus.“
„Aha,
zum Bahnhof, das ist gut.“
Sie
ließ Norbert, der eigentlich Luigi heißen müsste, wenn es nach den Besuchern
der Eisdiele ginge, einfach stehen und ging, ja stolzierte mit hochgezogenen
Schultern in die Richtung, die er ihr als die zum Bahnhof gezeigt hatte.
„Danke“,
sagte er leise zu sich selbst, schüttelte den Kopf und vergaß sie angesichts
dreier hübscher Stadtmädels, die oft zu ihm kamen und immer mit ihm flirteten.
Eine,
die frechste, rief bereits „Luigi, pronto!“ und lachte ihn herzlich an.
Die
Dame schaffte es bis zum Ausgang, betrat die Straße, registrierte kaum die
Dunkelheit, die grellen Lichter, die sie durchstießen, die meisten in dem
Versuch auf eine Dekoration aufmerksam zu machen. Dies hier kam ihr immerhin
bekannt vor und sie erkannte auch sofort rechts das warme Rot der
Backsteinfassade des Bahnhofs. Ohne sich um zu sehen ging sie entschlossen auf
das Gebäude zu, überquerte zügig den Zebrastreifen, was den Fahrer eines silbermetallic
Cabrios dazu zwang in die Bremse zu treten und ging die Stufen hoch, betrat die
Wartehalle und blieb erst nach dem Verlassen derselben am Bahnsteig stehen.
Hier sah sie sich wieder um, nach beiden Seiten, das erste Mal nach dem
Verlassen der Eisdiele hatte sie wieder das Gefühl sich hier nicht aus zu
kennen. Alles hier war verändert worden, nicht unschön, im Gegenteil, es gefiel
ihr, aber trotzdem war es fremd.
Ratlos
drehte sie sich um und ging zurück durch das Gebäude zum Bahnhofvorplatz. Erst
jetzt sah sie, dass auch hier nichts mehr war, wie in ihrer Erinnerung. Doch,
das Hotel gegenüber, der Kasten war so gräulich wie immer. Daher ging sie
wieder über den Zebrastreifen und betrat den Eingang, der sie aber nicht zum
Hotel, sondern in die Gaststätte führte. Irritiert blieb sie daher stehen und
sah sich verzweifelt um. Eine junge Kellnerin entdeckte sie und kam sofort auf
sie zu.
„Kann
ich Ihnen helfen?“
„Heißen
Sie angeblich auch Norbert?“
Die
Dame sah die Kellnerin streng an. Diese lächelte
„Nein,
wieso?“
„Dann
ist gut. Ich suche den Bahnhof. Ich glaube, ich muss zum Zug.“
„Der
ist da drüben.“ Die Kellnerin zeigte in die Richtung, sah dabei die Dame misstrauisch
geworden an. Sie hatte Erfahrung mit Demenz, ihr Vater litt seit einiger Zeit
unter dieser in ihren Augen fürchterlichste aller fürchterlichen Krankheiten.
„Da
war ich. Aber es kam kein Zug.“
„Wohin
müssen Sie denn?“
Die
Dame schilderte ihr den Ort, kurz und knapp. Die Kellnerin nickte.
„Das
ist ganz einfach. Wenn Sie in den Tunnel gehen, finden sie rechts eine Treppe.
Die führt zum Bahnsteig.“ Sie sah zur Uhr über dem Eingang. Die hing dort für
die Gäste, die hier nur auf den Zug warteten und sich dabei ein wenig stärken
wollten.
„Der
nächste kommt in zehn Minuten. Das schaffen sie bequem.“
Die
Dame nickte, drehte sich um und verließ das Haus mit ihren energischen
Schritten. Diesmal kam kein Auto, so dass keiner für sie bremsen musste beim
Überqueren des Zebrastreifens.
Sie
wandte sich nach links zu der Unterführung und ging die breit und sanft sich
absenkende und verengende Fläche hinunter bis sie, schon fast vor der Treppe,
plötzlich abrupt stehen blieb.
Sie
blieb wirklich stehen. Ganz steif, wirklich regungslos, so empfand es
jedenfalls der große und stark beleibte Mann in der dunkelblauen Uniform einer
Securityfirma, der vor dem Bahnsteigfahrstuhl für die Rollstuhlfahrer stand und
hoffte, dass nichts geschehen möge, was ihn dazu zwingen könnte, seine in der
viel zu kurzen Ausbildung erworbenen Fähigkeiten, von denen er ganz und gar
nicht überzeugt war, sie auch nur im Ansatz so nennen zu können, anzuwenden,
wahrscheinlich vergeblich und mit schlechten Ausgang für ihn.
Diese
ältere Dame, „bestimmt eine Großmutter, vielleicht schon Witwe, „die Frauen leben
ja einfach länger als wir Männer“, dachte er, „die steht komisch da. Was hat
sie nur? Warum geht sie nicht weiter?“
Er
rührte sich aber nicht, sah nur besorgt zu ihr hin, die rechte Hand vorsichtshalber
am Handy, bereit sofort den Notdienst an zu rufen, möglicherweise fiel sie ja gleich
um.
Genau
das tat die Dame nicht. Stattdessen schrie sie plötzlich laut um Hilfe, ein Arm
samt Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger zeigte dabei auf ihn, den Securitymann.
Sie
sah ihn, sah den Tunnel ängstlich an, trotz seinem eher fröhlich in Grün-Rot
changierendem Licht einladend, jedenfalls wenn es nach dem Willen des für
diesen Tunnel preisgekrönten Architekten ging, wirkenden Durchganges von der Innenstadt
hinüber in die eingemeindeten Exdörfer, nun Stadtteile im vergeblichen Bemühen,
ihre alte Identität zu bewahren.
Sie
schüttelte sehr kräftig und schnell den Kopf, schrie, zeigte mit dem Finger,
schrie.
Da
war er wieder. Der Kollege des Vaters, groß und schwer, stinkend, gierig,
brutal, über ihr, überall, in ihr, diese Schmerzen, Schmerzen, danach die
Scham, die Angst, die Tage voller Trauer, voller Angst, die Zeit, bis sie es
endlich verpackt hatte, ganz weit weg, nie wieder hervor gezogen, nie wieder
betrachtet oder abgewogen. Nie wieder, bis jetzt, bis hier der Tunnel wieder da
war, der Kollege, alles.
Sie
wusste nicht, dass dieses das bösartigste Geschenk der Krankheit war, die sich
in ihr ausbreitete ohne Schmerzen, ohne sichtbare Verformungen oder
Bruchstellen. Eine Krankheit im Kopf und in der Seele. Es war das Endstadium,
dass sie zu kosten bekam, die Zeit, in der ihr nur noch die Bilder ihrer
Kindheit blieben, die grausamen, die schlechten und alles sich in Angst
auflösen würde, bis nur noch die Angst blieb, Schemen sie jagen würden,
Dunkelheiten, mächtige Feuer, Gewitter, das Fegefeuer konnte nicht schlimmer
sein.
Noch
aber sah sie Gesichter, Gegenstände, ihre Umgebung, den Tunnel, den Securitymann,
nur dass der jetzt dieser Kollege von ihrem Vater war. Es war alles wieder genauso
und doch war etwas anders. Sie konnte weglaufen, vielleicht kam er dieses Mal
nicht hinter ihr her, fiel nicht über sie her, drang nicht in sie ein. Vielleicht.
Wenn sie nur schnell genug lief. Noch schneller. So schnell wie nie zuvor.
Sie
drehte sich um, rannte los, der Securitymann hinter ihr her. Er ahnte, dass da
etwas fürchterlich schief zu laufen begann. Er wollte die Frau stoppen, bevor
sie auf die Bahnhofstrasse kam. Um diese Zeit war hier viel Verkehr und die Frau
wirkte nicht so, als wenn sie darauf achten könnte. Er rannte, so schnell er es
mit seiner Beleibtheit und den durch seine Selbstgedrehten bereits beschädigten
Bronchen und Lungenflügel vermochte. Es war ihm, als renne er hinter seiner
eigenen Großmutter hinterher. Und er verspürte Angst.
Er
holte sie nicht ein. Sie war einfach schneller, trotz ihrer Kraft, die sie
zugleich für ihre Schreie aufbrachte. Inzwischen hatten sich alle, die sich in
Sichtweise zu ihr auf dem Bahnhofsgelände befanden in ihre Richtung gewandt. Aber
niemand rannte los wie der Securitymann, niemand stand nahe genug sie auf zu
halten.
Die
Kellnerin im Hotelrestaurant hatte zufällig bei der Bedienung eines frisch
verliebten Paares aus dem Fenster und die Frau gesehen, aber sich nur über deren
Aussehen und Verhalten gewundert, musste dann den Blick aber schnell abwenden
und die Teller abstellen. In dem Moment, in dem sie den glücklich lächelnden
jungen Leuten „Guten Appetit“ wünschen wollte, quietschten Reifen auf der
Straße, gab es ein nur schwach von ihr hörbares, dumpf klingendes Geräusch von
dem Aufprall der Dame an dem alten Opel, der in der Hoffnung seines Besitzers
noch lange seine Technik zu seinen Gunsten leisten sollte, was ihm nach dem
Aufprall, dem Anblick des Gesichtes der Frau vor seiner Frontscheibe ab diesem
Moment für immer egal sein würde.
Auch
der Securitymann wäre fast gegen den Opel geprallt, kam er doch fast, aber nur
fast gleichzeitig mit ihr auf der Straße an und schaffte es nur mit Mühe im
Abbremsen sein Gleichgewicht zu halten, zugleich entsetzt womöglich auf die
arme Frau zu fallen mit seinem Gewicht.
Erst
jetzt bewegten sich auch einige von den Zusehenden in ihre Richtung, zutiefst
erschrocken und zugleich neugierig, unsicher ob da Hilfe an zu bringen oder
noch sinnvoll sein könnte.
Der
Fahrer blieb erst einmal sitzen, sah auf seine zitternden Hände, spürte den
Schweiß auf der Stirn und ein sehr unangenehmes Gefühl im Magen. Er schloss seine
Augen, da ihm schwarz wurde und öffnete sie gleich wieder, da er das Karussell
seines Kreislaufes fürchtete und hoffte mit offenen Augen dieses besser zu
überstehen. Der Securitymann öffnete die Fahrertür und zog ihn vorsichtig
hinter dem Lenkrad hervor nach draußen. Der Fahrer ließ es gefallen, war
erleichtert, dass sich jemand um ihn kümmerte, versuchte zu stehen, schaffte es
in dem er sich mit dem Rücken an den Wagen lehnte. Von dort sah er zu den
Schuhen hin, in denen wohl die Füße der Dame steckten, deren Körper regungslos
vor seinem Wagen lag.
Jemand
musste schnell geschaltet und einen Notruf über Handy oder I-Phone losgelassen
haben, denn schon war die Sirene eines Krankenwagens und kurz danach eines
Polizeifahrzeuges zu hören, die in kurzem Abstand hinter dem Unglücksfahrzeug
hielten. Die Ärztin, sichtbar müde und nervös, drängte sich an den Leuten
vorbei, sah nur kurz zu dem mittlerweile sehr bleichen Fahrers hin und
untersuchte das nun schon nur noch Unfallopfer genannte menschliche Wesen, immer
führerscheinlos, weil die ältere Dame, die sie kurz davor noch in den Augen
einiger gewesen war, immer schon etwas gegen Technik gehabt hatte und lieber
mit dem Fahrrad oder Zug fuhr. Jetzt war sie nichts mehr von alledem, nur noch Unfallopfer
und tot, somit Bestandteil der seit Jahrzehnten überall im Land penibel
geführten Unfallstatistik und schwächte in diesem Jahr die Chance, auf bessere
Ergebnisse, weil weniger tödliche Unfälle. Das war den Teilnehmern dieser Szene
völlig egal, es dachte auch niemand daran, eher an das Glück, nicht selber dort
zu liegen, vielleicht an die Angehörigen und ein klein wenig auch an die Frau, wer
sie wohl gewesen sein mochte, ob sie glücklich gewesen war oder nicht und wie
schmerzlich die Trauer sein würde an ihrem Grab.
Als
der Buchhändler seinen Heimweg anradelte, dafür zum Bahnhof und durch den Tunnel
glitt, sah er den Krankenwagen, den Auflauf, dachte aber nicht mehr an die
umher irrende ältere Dame und schon gar nicht, dass sie womöglich der Anlass
war, für das was er mit raschen Tritten in die Pedale hinter sich ließ in der
Vorfreude auf einen neuen Krimi der beiden der Ironie so wunderbar verhafteten
Autoren aus dem Allgäu, wo er mit seiner Frau seit Jahren schon den
Sommerurlaub mit Wanderungen und einheimischen Speisen und dunklen Bieren
verbrachte.
Norbert,
der eigentlich Luigi heißen müsste bekam von alledem erst gar nichts mit,
genoss die scherzhafte Zuwendung der drei Mädels und hörte erst bei der
feierabendlichen Kassenabrechnung, dass vor dem Bahnhof eine Oma vor ein Auto
gelaufen sei und sofort verstorben. Aber Norbert kam ebenfalls nicht auf die
Idee, dass es sich um die Dame handeln könnte, die dagegen gewesen war, dass er
Norbert war und sein wollte.
Nach
der Feststellung der Todesursache „Genickbruch in Folge des Aufpralls“
untersuchte die Ärztin den Fahrer, diagnostizierte „Schock und aufgrund starker
Bremseinwirkung ein Schleudertrauma“, letzteres bescherte dem Fahrer ein paar
Wochen lang eine ihn sehr nervende Halskrause, und bei dem Securitymann, der
völlig verunsichert da geblieben war, nicht weiter den Tunnel mit seiner
körpergewaltigen Anwesenheit beschützt hatte, hielt sie ebenfalls „Schock“ fest
und mit dieser Diagnose und der schlecht geschlafenen Nacht danach ging er zu
seinem Arzt, der ihn sofort für eine Woche von seinem Dienst befreite.
Der
Unglücksfahrer ließ sich von seiner Frau abholen, die den Wagen nach Abschluss
der polizeilichen Untersuchungen zurück fuhr, damit ein letztes Mal, denn schon
drei Wochen später gelang es ihnen den Opel für 500 Euro los zu werden.
Die
beiden Streifenpolizisten waren noch lange nach dem Unfall mit der Frau
beschäftigt, da sie keine Papiere bei ihr gefunden hatten und niemand sich
meldete, der über ihr Verbleiben besorgt war.
In
einer weit entfernten Stadt stapelte sich in einer kleinen Seniorenwohnung die papierne
Werbung der Supermärkte, Glücksspielanbieter und Fachmärkte auf dem Flur. Beim
Vermieter hingegen stapelte sich auf dessen Konto nichts, zumindest nicht mehr
die Mieteinnahmen von diesem Objekt, wie es in seiner Sprache hieß, und so ließ
er die Wohnung eines Tages aufbrechen. Aber auch er fand keinerlei Hinweise auf
ihre Herkunft, somit auch keine Verwandten an die er sich wegen der
mittlerweile nicht unerheblichen Mietrückstände hätte halten können. Sie hatte
schon länger in der Wohnung gelebt und darum fiel es dem Vermieter schwer, sich
an ihr Aussehen zu erinnern. Er hatte sie ja nur kurz bei dem Abschließen des
Mietvertrages gesehen. Auch der Hausmeister hatte nur eine vage Erinnerung,
irgendwie gut gepflegt, unauffällig, eher grau, ja, graue Maus. Alt eben.
Zwar
informierte der Vermieter die Polizei, vielleicht dass diese jemanden
auftrieben, da er aber keine brauchbaren Hinweise geben konnte, wusste man auf
der Wache nicht, wie sie nach der Dame suchen sollten.
Ein
Abgleich der in der Wohnung gefundenen Fingerabdrücke hatte den ermittelnden
Beamten auch nichts erbracht. Und so geriet der Vorgang schneller in
Vergessenheit als er entstanden war. Nur der Vermieter dachte aufgrund der ihm
abhanden gekommenen Summe noch öfter daran, wenn auch ohne das Gesicht einer
Person für seinen Ärger zu haben.
Die
Polizisten in der Stadt ihres so brutalen, heftigen Ablebens hatten ebenfalls Fingerabdrücke
genommen. Aber auch sie fanden keine anderen, mit den ihren Übereinstimmenden. Die
Kellnerin hätte ihnen zumindest die Stadt nennen können, falls sie sich die
gemerkt hatte, aber da sie als Zeugin sich nicht gemeldet und auch keine Ahnung
von den Problemen der Polizei hatte, durch nichts mit der Frau in Verbindung
gebracht werden konnte und sie auch keine Zeitung las, lieber auf Facebook sich
informierte, wo die Polizei keine Informationen hinterlassen hatte, gab es für
sie keinen Grund, auf der Wache vorstellig zu werden und zur Aufklärung der
Herkunft bei zu tragen.
Schließlich
übernahm das Sozialamt der Stadt die Beerdigung, zu der weder Norbert, noch
immer kein Luigi, noch der Buchhändler, der Unglücksfahrer oder der
Securitymann erschienen, da die Stadt zwar eine Todesanzeige geschaltet hatte,
als letzten Versuch einem Angehörigen die Möglichkeit zu geben, den Tod der
alten Dame zu registrieren und vielleicht traurig aber in Verbundenheit mit der
Toten die Beerdigungskosten zu übernehmen, die Männer aber, die ihr als letzte
begegnet waren, nicht ahnen konnten, dass sie die Unbekannte sein könnte, denn
danach hatte sie nun wirklich nicht ausgesehen, dass sie völlig allein durch
dieses Leben surfte, so jedenfalls hätte es die drei scherzenden Mädels in Norberts
Eisdiele ausgedrückt. Es war, als hätte das Leben selbst, zumindest in ihrem
Fall, der bald darauf geschlossenen Akte „unbekanntes Unfallopfer Bahnhof“,
selber jene Krankheit bekommen, deren Aufflammen im Tunnel sie umkommen ließ,
bevor sie das ganze Ausmaß erleiden musste. Wie sich diese Krankheit in der Gesellschaft
entwickelt, bleibt ab zu warten, vorläufig jedenfalls schmunzelt der
Buchhändler weiter bei seinen Allgäukrimis neben seiner Frau im ehelichen Bett und
Norbert freut sich weiter jeden Tag auf die Flirtmädels mit ihren Scherzen, so
lange zumindest, bis alles sich wieder zu größerer Veränderung hin bewegt. Der
Kellnerin ist vier Wochen danach die Diagnose „Brustkrebs“ eröffnet worden, was
sie dazu brachte das erste Mal in ihrem Leben wirklich für das Leben sich zu
entscheiden und zu kämpfen. Sie begann damit, ihren Verlobten davon zu treiben
und schaffte es tatsächlich die Krankheit mit Unterstützung von Ärzten und
Therapeuten zu überwinden. Daher ist sie in dem Hotelrestaurant nicht mehr zu
finden. Sie hat sich selbst weiter bilden lassen zur „Heilerin“, hatte sie doch
Kräfte während des Kampfes gegen den Krebs in sich entdeckt, die sie nun auch
anderen Menschen zu Gute kommen lassen will.
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