Aber sie nahm mich in den Arm, vorsichtig,
als sei ich plötzlich mit dem Alter und der Erkrankung zerbrechlich geworden
wie eine der Goldrandtassen ihrer Mutter bei uns im Wohnzimmerschrank.
Habe Roswita angerufen, wollte ihr nichts
von meinem vergeblichen Besuch bei ihr sagen, da ich mir ihre Reaktion
vorstellen konnte. Aber da hatte ich die Rechnung ohne die Nachbarn der stillen
Straße gemacht, die hatten es ihr längst gesteckt, dass der „Hippie“ da war und
um ihr Haus geschlichen sei, und natürlich entschuldigte sie sich traurig, dass
sie nicht da gewesen wäre und wie sehr sie sich über meinen Besuch nach so
langer Zeit gefreut hätte. Ich verabredete mit ihr eine Uhrzeit für Morgen und
sagte, dass auch ich mich freuen würde, sie endlich mal wieder zu sehen, aber
die viele Arbeit, sie wisse schon. Von meiner Krankschreibung sagte ich ihr
lieber nichts. Ich mochte nicht darüber reden.
Im Haus habe ich es inzwischen mir gemütlich
eingerichtet. Aus dem Wohnzimmer ist ein Bildermeer geworden, die Fotografien liegen
in mehreren Bächen verstreut, jeder eine
Linie, eine Spur eines Familienzweiges in chronologischer Reihenfolge. Auf dem Esstisch
steht der kleine Laptop für mich bereit und da sehe ich jetzt mal weiter nach
Karl:
„ Für Karl gab es nicht viel Unterschiede,
vor allem zwischen seiner Situation auf der Arbeit und im Haus seiner
Schwiegermutter. Sie stellten dort U-Boote her, was ihm bisher einen
Einberufungsbefehl erspart hatte und was ihm im Gegensatz zu Hilde mehr als
recht war. Glaubte er doch schon länger nicht mehr an den vielbeschworenen
Endsieg und diese Partei, in der er im Nachhinein betrachtet wie ein Idiot
gelandet war, ohne wirkliche Ahnung über deren Programm und Ziele. Was hatte
sie ihm gebracht: Hilde, na gut! Und was noch?
Jetzt guckten die ihn an, abgesehen von dem Neid, dass er hier statt an
der Front war, als wäre er Schuld an den ganzen Bombardements und dem
Niedergang des Reiches des Gröfaz, wie sie den Führer immer mehr unter nach wie
vor vorgehaltener Hand nannten. Wenn er hier im Haus sein Brot abbiss, war es
wie in der Arbeit eine Nebenbeschäftigung für ihn, irgendwie notwendig zwar,
aber ohne großes Interesse seinerseits. Er bekam stets genug zu Essen. Warum
also sich über so etwas wie das Brot oder die dauernden Eintöpfe der
Schwiegermutter Gedanken machen.
Auch auf der Arbeit aßen sie nebenbei, immer
mehr jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Es war, als klebe ihnen die
Zeit zwischen den Zähnen und verstopfe den Rachen. Es war alles erzählt gesagt,
kommentiert und jetzt blieb ihnen wohl nur das Warten, hoffen, bangen. Und
jeden Tag rechneten sie damit, dass eine der Bomben auch ihr Gebäude treffen
und es dann zu Ende wäre mit diesem Arbeitsplatz und wer Pechhatte, auch mit
dem Leben.
Eigentlich mochte Karl sein Brot nicht. Noch
nie, schon als kleiner Junge würgte es ihm vom Sauerteig und er musste kämpfen,
dass die Pampe runter geschluckt in seinen Magen kam. Nur bei ganz frischem
Brot geschah das nicht, das glitt sanft und ohne Gegenwehr in ihn hinein. Noch
weniger mochte er fette Auflage, dicke Speck- oder Schinkenscheiben,
irgendwelche Aufschnitte genannten Wurstsorten.
Karl sehnte sich. Er sehnte sich nach etwas
ganz anderem. Vor seinen Augen sah er zu jeder Zeit, wenn er es wollte und die
Umgebung es zu ließ, Segelschiffe, solche, wie sie vor dem Krieg hergestellt
wurden, sah sich an Deck in der Sonne liegen, in der Südsee beim alten Siegesmund
Rüstig, eines seiner Lieblingsbuchhelden, über sich die heiß strahlende Sonne,
im mit Händen mühsam verschatteten Blick in der Ferne die Palmen auf kleinen Inseln,
sah Strände in Buchten sich verwandeln, hörte tief in sich das leise Knattern
der Segel und das heisere Schreien der Möwen.
Mit diesen Bildern erhob er sich, drückte
sich entschuldigend an Hilde vorbei, streckte seine Gestalt bei den zwei
Schritten bis zur Tür, drückte die
Klinke runter, hatte die klare Absicht, auf dem Klo ein wenig für sich zu sein,
sah dabei nicht auf seine Hand, tat es nie,
betrachtete überhaupt nicht gerne seinen Körper.
Wenn sein Blick zufällig oder
notwendigerweise darauf fiel, so wie auf dem Klo beim Herunterziehen der Hose
auf die nackten Knie und Schenkel, bekam
er Angst vor der eigenen Blässe, der offensichtlichen fast fadenscheinig dünnen
Haut, der geringen Ausbreitung seines Fleisches trotz seiner tapferen
Selbstüberwindungen beim Brot. An Muskeln mochte er bei seinem Anblick ohnehin
nie denken. Muskeln hatten die anderen. Was hatte er? Irgendwas, irgendwie
anderes.
Muskeln gehörten sogar zu Hilde, zur Schwiegermutter,
Fleisch ebenso, kräftiges Fleisch eben,
das mit dem leuchtenden Rot drängenden Blutes.
Ja, seine Hilde, das war Leben, Natur, Kraft
dieser Welt, sie unerschütterlich am Steuer selbst mitten in der Zerstörung
unendlichen Bahnfahrt.
Er, Karl, saß dagegen nur in einer
zuckeligen, quietschenden Straßenbahn und fror vom Fahrtwind, der ihm durch die
Ritzen in die Hosenbeine stach, konnte dabei das Pulsieren draußen, das Atmen,
das Pumpen und Stemmen, das Vorwärtsgerenne nur ein wenig durch die beschlagene
Scheibe betrachten.
Einmal, ein einziges Mal hatte er
mitgespielt und gewonnen! Nein, nicht dieser Parteieintritt damals, da war für
ihn nie etwas zu Gewinnen gewesen, am Anfang klangen die Ziele ja annehmbar,
aber die Methoden waren zu laut, zu grell, zu tödlich und zu gemein, da musste
es ja im Abgrund enden. Er empfand das
heute und hier als gerecht, auch ihm selbst nebst Hilde und Schwiegermutter
gegenüber.
So war doch das Leben, für die Höhen muss in
der Tiefe bezahlt werden, wie bei diesem Faust schon von dem Goethe, dessen
Balladen ihn in der Schule gequält hatten, weil er sich so viele Worte auf
einmal weder merken konnte noch wollte. Und wie die Götter seiner Jugend, diesen
Zeus, Apollo, Herkules, Achilles, Agamemnon und wie sie alle hießen, die trotz
starkem Auftritt ab in den Hades mussten, selbst Wotan, Freya oder Thor .
Eines Tages verfinstert sich der Himmel über
alles Große, Laute, Gewaltige und die Abgründe tun sich auf, die
Abscheulichkeiten unserer Taten und Gedanken, lange unter uns lauernd, reißen
ihren mächtig gewordenen Schlund auf, verschlingen Größe, Herrlichkeit, Pracht,
Schönheit, einfach alles davon und nur das Niedrige, das Schwache bleibst
bestehen, krebst fortan vor sich hin in Mühsal und Pein, bis wieder das Große
zu neuem Leben erwacht. Er hatte seine
Art den Spengler zu verstehen, dessen „Untergang des Abendlandes“ und mit
solchen Gedanken ließ es sich gut und leicht die steile Stiege hinuntergehen in
das „Schafott“, so wie sie es nannten, das Plumpsklo, vom alten derb gezimmert
als „Übergang“ und hatte doch dessen freiwilligen Abgang überlebt.
Karl mochte diesen Ort, fragte sich oft, ob
der Alte hier vor ihm auch hierhin geflohen war vor den „Weibern“, so soll er
sie genannt haben, seine „Weiber“, und deshalb hier eine Tapete angebracht
hatte und einen guten Abzug für die Gerüche.
Oben saß derweil Hilde, nahm ihr Strickzeug,
dass immer parat lag auf der hohen Rückenlehne des Sofas, während ihre Mutter
den Abendabwasch hinter sich brachte, aus Vorsicht, die anderen beiden könnten
noch mehr von ihrem Porzellan zerstören, nicht aus Hilfsbereitschaft also. Sie strickte für die Winterhilfe und freute
sich auf den nächsten Rundgang, bei dem sie wieder ein paar Märker für die
tapferen Männer an der Front sammeln und sich etwas nützlich machen konnte für
den Führer.
Warum ließ sie keiner in den großen Fabriken
mit schuften, wo sie nun Gewehrkugeln oder Granaten herstellten? Warum nur musste
sie mit ihrer unbändigen Kraft und Zuneigung für das reich zu sehen, wie die ewigen
Feinde ihres Volkes, ihrer Ahnen und Urahnen, den großen Traum zerstören,
zerbomben, während Feigheit, Schwäche, Faulheit und Betrug ihr Volk überfiel
und mit in den Untergang zog?
Neben ihr brausten passend Geigen dazu auf
und Getrommel, das, was sie von der Symphonie dieses großen deutschen Beethoven
mitbekam. „Die Neunte“, hatte der Sprecher gesagt, als wenn sie das nicht wüsste,
kannte sie doch, natürlich, vor allem diese erhebende Stelle darin: „Freude
schöner Götterfunken …!“
Dabei stellte sie sich stets den Nürnberger
Parteitag vor auf dem Reichsfeld, die tausenden von Fahnen, flatternd und
schlagend im Wind wie große schwarze Adler mit ihren Schnäbeln in den Himmel
stoßend, vorne, am großen Rednerpult dazu der Führer, windzerzaust, heroisch,
blitzende Augen, die Fäuste geballt: „Wir Deutschen, ….!“ Und: “Sieg Heil!“
dann diese auf ihn zu rollende Brandung aus abertausenden von Kehlen:“Sieg
Heil!“, das und Beethoven passten so herrlich schön zusammen, oder hier mit
Kindern, die sie zwar nicht hatte, aber ein paar von denen aus der
Nachbarschaft taten es auch, am Gartenzaun in der schönen Frühlingssonne
stehen, deutsche Mädels und Buben, deutsche Frau, alle in farbenprächtigen
Klamotten und der Führer fährt vorbei, steht in seiner Limousine, winkt ihnen,
nein ihr besonders zu, lächelt sie an mit seinen dunklen Augen, lässt anhalten,
nimmt eines der Mädchen hoch auf den Arm, küsst es auf die Wange, und jetzt
kamen ihr wirklich die Tränen, ihre Brust bebte so stark, dass sie Angst vor
den Schlägen ihres Herzens bekam, und so hätte sie beinahe die Durchsage
überhörte: „Achtung – Achtung. Der gemeldete feindliche Verband nähert sich aus
Richtung Süden kommend der Neustadt. Für das gesamte Stadtgebiet, vor allem für
die Häfen, wird Alarm gegeben! Achtung – Achtung, ein feindlicher Verband hat
das Stadtgebiet erreicht …!“
Jetzt hörte sie auch die Sirenen. Ohne
weiter auf den Volksempfänger zu achten, stürzte Hilde mitsamt ihrem Strickzeug
für die Winterhilfe zur Flurtür. Von
unten hörte sie die Klotüre quietschen, könnte der Dämmel auch mal schmieren,
hörte Karl rufen: „Was ist passiert? Wie weit sind sie schon?“, aber bevor sie
antworten konnte, zerrissen schon wieder die Sirenen, jetzt alle und völlig
hysterisch die Geigenmusik aus dem Wohnzimmer, zerrten an den letzten heilen
Gläsern im Schrank, zersichelten ihre Nerven, da sie Karl nicht hören konnte
und ihr selbst Gebrülltes darin unterging.
Noch mehr aber, dass sie die Klinke zwar
normal runter, die Tür aber nicht auf drücken konnte. Irgendetwas blockierte
die Tür, und als sie stärker drückte, hatte sie den Eindruck, dass da etwas vor
liegen musste. Himmel, aber was und
wieso jetzt? „Karl!!!!“ Ihre Stimme schlug durch das Haus gegen sein Ohr, dass
er erschrocken mit dem Kopf zurückstieß und auf der Treppe wie festgenagelt
stehen blieb. Erst das dritte „Karl!!!!“ brachte ihm die Bewegungsfreiheit
zurück.
Hilde verzweifelte wie selten in ihrem
Leben, wollte der Depp sie hier etwa einsperren und wo war ihre Mutter, was
hatte der mit ihr gemacht, wollte dieser Giftpantoffel sie wirklich den Bomben
der Tommys ausliefern? Das hätte sie ihm nie, …, nein eigentlich auch jetzt
nicht. Sie wurde ruhiger, überlegte, womit und wie sie die Tür aufstemmen
könnte. Es wurde Zeit.
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