Freitag, 22. März 2013

"Am Ende stehen wir da, wo wir angefangen haben." Fortsetzung 3








Aber sie nahm mich in den Arm, vorsichtig, als sei ich plötzlich mit dem Alter und der Erkrankung zerbrechlich geworden wie eine der Goldrandtassen ihrer Mutter bei uns im Wohnzimmerschrank.
Habe Roswita angerufen, wollte ihr nichts von meinem vergeblichen Besuch bei ihr sagen, da ich mir ihre Reaktion vorstellen konnte. Aber da hatte ich die Rechnung ohne die Nachbarn der stillen Straße gemacht, die hatten es ihr längst gesteckt, dass der „Hippie“ da war und um ihr Haus geschlichen sei, und natürlich entschuldigte sie sich traurig, dass sie nicht da gewesen wäre und wie sehr sie sich über meinen Besuch nach so langer Zeit gefreut hätte. Ich verabredete mit ihr eine Uhrzeit für Morgen und sagte, dass auch ich mich freuen würde, sie endlich mal wieder zu sehen, aber die viele Arbeit, sie wisse schon. Von meiner Krankschreibung sagte ich ihr lieber nichts. Ich mochte nicht darüber reden.
Im Haus habe ich es inzwischen mir gemütlich eingerichtet. Aus dem Wohnzimmer ist ein Bildermeer geworden, die Fotografien liegen in mehreren Bächen verstreut, jeder  eine Linie, eine Spur eines Familienzweiges in chronologischer Reihenfolge. Auf dem Esstisch steht der kleine Laptop für mich bereit und da sehe ich jetzt mal weiter nach Karl:

„ Für Karl gab es nicht viel Unterschiede, vor allem zwischen seiner Situation auf der Arbeit und im Haus seiner Schwiegermutter. Sie stellten dort U-Boote her, was ihm bisher einen Einberufungsbefehl erspart hatte und was ihm im Gegensatz zu Hilde mehr als recht war. Glaubte er doch schon länger nicht mehr an den vielbeschworenen Endsieg und diese Partei, in der er im Nachhinein betrachtet wie ein Idiot gelandet war, ohne wirkliche Ahnung über deren Programm und Ziele. Was hatte sie ihm gebracht: Hilde, na gut! Und was noch?  Jetzt guckten die ihn an, abgesehen von dem Neid, dass er hier statt an der Front war, als wäre er Schuld an den ganzen Bombardements und dem Niedergang des Reiches des Gröfaz, wie sie den Führer immer mehr unter nach wie vor vorgehaltener Hand nannten. Wenn er hier im Haus sein Brot abbiss, war es wie in der Arbeit eine Nebenbeschäftigung für ihn, irgendwie notwendig zwar, aber ohne großes Interesse seinerseits. Er bekam stets genug zu Essen. Warum also sich über so etwas wie das Brot oder die dauernden Eintöpfe der Schwiegermutter Gedanken machen. 
Auch auf der Arbeit aßen sie nebenbei, immer mehr jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Es war, als klebe ihnen die Zeit zwischen den Zähnen und verstopfe den Rachen. Es war alles erzählt gesagt, kommentiert und jetzt blieb ihnen wohl nur das Warten, hoffen, bangen. Und jeden Tag rechneten sie damit, dass eine der Bomben auch ihr Gebäude treffen und es dann zu Ende wäre mit diesem Arbeitsplatz und wer Pechhatte, auch mit dem Leben.
Eigentlich mochte Karl sein Brot nicht. Noch nie, schon als kleiner Junge würgte es ihm vom Sauerteig und er musste kämpfen, dass die Pampe runter geschluckt in seinen Magen kam. Nur bei ganz frischem Brot geschah das nicht, das glitt sanft und ohne Gegenwehr in ihn hinein. Noch weniger mochte er fette Auflage, dicke Speck- oder Schinkenscheiben, irgendwelche Aufschnitte genannten Wurstsorten.
Karl sehnte sich. Er sehnte sich nach etwas ganz anderem. Vor seinen Augen sah er zu jeder Zeit, wenn er es wollte und die Umgebung es zu ließ, Segelschiffe, solche, wie sie vor dem Krieg hergestellt wurden, sah sich an Deck in der Sonne liegen, in der Südsee beim alten Siegesmund Rüstig, eines seiner Lieblingsbuchhelden, über sich die heiß strahlende Sonne, im mit Händen mühsam verschatteten Blick in der Ferne die Palmen auf kleinen Inseln, sah Strände in Buchten sich verwandeln, hörte tief in sich das leise Knattern der Segel und das heisere Schreien der Möwen.
Mit diesen Bildern erhob er sich, drückte sich entschuldigend an Hilde vorbei, streckte seine Gestalt bei den zwei Schritten bis  zur Tür, drückte die Klinke runter, hatte die klare Absicht, auf dem Klo ein wenig für sich zu sein, sah dabei nicht auf seine Hand, tat es nie,  betrachtete überhaupt nicht gerne seinen Körper.

Wenn sein Blick zufällig oder notwendigerweise darauf fiel, so wie auf dem Klo beim Herunterziehen der Hose auf die nackten Knie und Schenkel,  bekam er Angst vor der eigenen Blässe, der offensichtlichen fast fadenscheinig dünnen Haut, der geringen Ausbreitung seines Fleisches trotz seiner tapferen Selbstüberwindungen beim Brot. An Muskeln mochte er bei seinem Anblick ohnehin nie denken. Muskeln hatten die anderen. Was hatte er? Irgendwas, irgendwie anderes.

Muskeln gehörten sogar zu Hilde, zur Schwiegermutter, Fleisch ebenso, kräftiges Fleisch eben,  das mit dem leuchtenden Rot drängenden Blutes.
Ja, seine Hilde, das war Leben, Natur, Kraft dieser Welt, sie unerschütterlich am Steuer selbst mitten in der Zerstörung unendlichen Bahnfahrt.
Er, Karl, saß dagegen nur in einer zuckeligen, quietschenden Straßenbahn und fror vom Fahrtwind, der ihm durch die Ritzen in die Hosenbeine stach, konnte dabei das Pulsieren draußen, das Atmen, das Pumpen und Stemmen, das Vorwärtsgerenne nur ein wenig durch die beschlagene Scheibe betrachten.

Einmal, ein einziges Mal hatte er mitgespielt und gewonnen! Nein, nicht dieser Parteieintritt damals, da war für ihn nie etwas zu Gewinnen gewesen, am Anfang klangen die Ziele ja annehmbar, aber die Methoden waren zu laut, zu grell, zu tödlich und zu gemein, da musste es ja im Abgrund enden.  Er empfand das heute und hier als gerecht, auch ihm selbst nebst Hilde und Schwiegermutter gegenüber.  
So war doch das Leben, für die Höhen muss in der Tiefe bezahlt werden, wie bei diesem Faust schon von dem Goethe, dessen Balladen ihn in der Schule gequält hatten, weil er sich so viele Worte auf einmal weder merken konnte noch wollte. Und wie die Götter seiner Jugend, diesen Zeus, Apollo, Herkules, Achilles, Agamemnon und wie sie alle hießen, die trotz starkem Auftritt ab in den Hades mussten, selbst Wotan, Freya oder Thor .

Eines Tages verfinstert sich der Himmel über alles Große, Laute, Gewaltige und die Abgründe tun sich auf, die Abscheulichkeiten unserer Taten und Gedanken, lange unter uns lauernd, reißen ihren mächtig gewordenen Schlund auf, verschlingen Größe, Herrlichkeit, Pracht, Schönheit, einfach alles davon und nur das Niedrige, das Schwache bleibst bestehen, krebst fortan vor sich hin in Mühsal und Pein, bis wieder das Große zu neuem Leben erwacht.  Er hatte seine Art den Spengler zu verstehen, dessen „Untergang des Abendlandes“ und mit solchen Gedanken ließ es sich gut und leicht die steile Stiege hinuntergehen in das „Schafott“, so wie sie es nannten, das Plumpsklo, vom alten derb gezimmert als „Übergang“ und hatte doch dessen freiwilligen Abgang überlebt.

Karl mochte diesen Ort, fragte sich oft, ob der Alte hier vor ihm auch hierhin geflohen war vor den „Weibern“, so soll er sie genannt haben, seine „Weiber“, und deshalb hier eine Tapete angebracht hatte und einen guten Abzug für die Gerüche.

Oben saß derweil Hilde, nahm ihr Strickzeug, dass immer parat lag auf der hohen Rückenlehne des Sofas, während ihre Mutter den Abendabwasch hinter sich brachte, aus Vorsicht, die anderen beiden könnten noch mehr von ihrem Porzellan zerstören, nicht aus Hilfsbereitschaft also.  Sie strickte für die Winterhilfe und freute sich auf den nächsten Rundgang, bei dem sie wieder ein paar Märker für die tapferen Männer an der Front sammeln und sich etwas nützlich machen konnte für den Führer.

Warum ließ sie keiner in den großen Fabriken mit schuften, wo sie nun Gewehrkugeln oder Granaten herstellten? Warum nur musste sie mit ihrer unbändigen Kraft und Zuneigung für das reich zu sehen, wie die ewigen Feinde ihres Volkes, ihrer Ahnen und Urahnen, den großen Traum zerstören, zerbomben, während Feigheit, Schwäche, Faulheit und Betrug ihr Volk überfiel und mit in den Untergang zog?

Neben ihr brausten passend Geigen dazu auf und Getrommel, das, was sie von der Symphonie dieses großen deutschen Beethoven mitbekam. „Die Neunte“, hatte der Sprecher gesagt, als wenn sie das nicht wüsste, kannte sie doch, natürlich, vor allem diese erhebende Stelle darin: „Freude schöner Götterfunken …!“

Dabei stellte sie sich stets den Nürnberger Parteitag vor auf dem Reichsfeld, die tausenden von Fahnen, flatternd und schlagend im Wind wie große schwarze Adler mit ihren Schnäbeln in den Himmel stoßend, vorne, am großen Rednerpult dazu der Führer, windzerzaust, heroisch, blitzende Augen, die Fäuste geballt: „Wir Deutschen, ….!“ Und: “Sieg Heil!“ dann diese auf ihn zu rollende Brandung aus abertausenden von Kehlen:“Sieg Heil!“, das und Beethoven passten so herrlich schön zusammen, oder hier mit Kindern, die sie zwar nicht hatte, aber ein paar von denen aus der Nachbarschaft taten es auch, am Gartenzaun in der schönen Frühlingssonne stehen, deutsche Mädels und Buben, deutsche Frau, alle in farbenprächtigen Klamotten und der Führer fährt vorbei, steht in seiner Limousine, winkt ihnen, nein ihr besonders zu, lächelt sie an mit seinen dunklen Augen, lässt anhalten, nimmt eines der Mädchen hoch auf den Arm, küsst es auf die Wange, und jetzt kamen ihr wirklich die Tränen, ihre Brust bebte so stark, dass sie Angst vor den Schlägen ihres Herzens bekam, und so hätte sie beinahe die Durchsage überhörte: „Achtung – Achtung. Der gemeldete feindliche Verband nähert sich aus Richtung Süden kommend der Neustadt. Für das gesamte Stadtgebiet, vor allem für die Häfen, wird Alarm gegeben! Achtung – Achtung, ein feindlicher Verband hat das Stadtgebiet erreicht …!“

Jetzt hörte sie auch die Sirenen. Ohne weiter auf den Volksempfänger zu achten, stürzte Hilde mitsamt ihrem Strickzeug für die Winterhilfe zur  Flurtür. Von unten hörte sie die Klotüre quietschen, könnte der Dämmel auch mal schmieren, hörte Karl rufen: „Was ist passiert? Wie weit sind sie schon?“, aber bevor sie antworten konnte, zerrissen schon wieder die Sirenen, jetzt alle und völlig hysterisch die Geigenmusik aus dem Wohnzimmer, zerrten an den letzten heilen Gläsern im Schrank, zersichelten ihre Nerven, da sie Karl nicht hören konnte und ihr selbst Gebrülltes darin unterging.
Noch mehr aber, dass sie die Klinke zwar normal runter, die Tür aber nicht auf drücken konnte. Irgendetwas blockierte die Tür, und als sie stärker drückte, hatte sie den Eindruck, dass da etwas vor liegen musste.  Himmel, aber was und wieso jetzt? „Karl!!!!“ Ihre Stimme schlug durch das Haus gegen sein Ohr, dass er erschrocken mit dem Kopf zurückstieß und auf der Treppe wie festgenagelt stehen blieb. Erst das dritte „Karl!!!!“ brachte ihm die Bewegungsfreiheit zurück.
Hilde verzweifelte wie selten in ihrem Leben, wollte der Depp sie hier etwa einsperren und wo war ihre Mutter, was hatte der mit ihr gemacht, wollte dieser Giftpantoffel sie wirklich den Bomben der Tommys ausliefern? Das hätte sie ihm nie, …, nein eigentlich auch jetzt nicht. Sie wurde ruhiger, überlegte, womit und wie sie die Tür aufstemmen könnte. Es wurde Zeit.

Keine Kommentare: