Samstag, 23. März 2013

"Am Ende stehen wir da, wo wir angefangen haben." Fortsetzung 4



Karl riss sich zusammen, sprang die Stiege hoch, wobei er eine Stufe leicht mit seinem linken Knie touchierte. Irgendwie war es ihm, dass er, noch genüsslich vor sich hin Traumstrände malend, einen dumpfen Knall gehört hätte, ein Aufschlag irgendwie, den er den Geräuschen des Hauses nicht recht zu ordnen konnte und er hatte auch das Gefühl, dass es nicht aus den beiden Nachbarhäusern gekommen war und so bekam er zunehmend von Stufe zu Stufe mehr ein ungutes Gefühl.

Mit dem Fliegeralarm konnte das nicht zusammen hängen, der war später gekommen, auf das wieder einsetzende Karl-Gerufe seiner Frau mochte er schon gar nicht hinhören, da drohte irgendwo anders Ungemach. Was den Alarm anging wusste er doch auch ohne ihr Gekreische, was er zu tun hatte, wusste, dass er wieder die Kassette mit den wichtigen Papieren aus dem Schlafzimmer holen musste, Hilde ihr Strickzeug packen, die Schwiegermutter was zum Essen und das große Fotoalbum  unter den Arm, ganz vorne im Album: ein Bild des Führers, „So sind wir nie ohne ihn,“ hatte sie einer Nachbarin einmal im Bunker erzählt, war damit aber nicht auf großes Interesse gestoßen, seither jedenfalls setzte die sich immer weit weg von ihnen. Die Schlafzimmertür, die er hastig anstrebte lag genau gegenüber der Wohnzimmertür.

Und genau dort, zwischen beiden Türen, lag etwas Dunkles, etwas Großes, was hier noch nie lag und ganz sicher zur unpassendsten Zeit dorthin geraten war. Karl konnte den Schwung seiner Bewegungen nicht mehr rechtzeitig abstoppen und trat von der Stiege aus direkt in diese Masse hinein. Erst spürte er etwas Weiches, traf dann auf einen etwas festeren Widerstand. Erschrocken zog er den unglückseligen Fuß zurück, rechts von ihm hatte Hilde die Tür etwas bewegen können nach vielem vergeblichen Anstürmen und Drücken, konnte sogar mit ihren Kopf hindurch sehen und erschien ihm so als dunkles Gesicht vor dem matt gelbem Schein der Glühbirne im Wohnzimmer: „Was soll das Karl, spinnst Du jetzt komplett? Räum das weg da, sofort!“

Karl stand verwirrt auf der letzten Stufe der stiege, auf die er sich zurückgezogen hatte, starrte jetzt leicht verwirrt von dem schwarzen Kopf zu der Masse vor seinen Füßen. In der ersten Sekunde des Zusammentreffens seines Fußes mit dieser großen Weichheit in dem engen dunklen Flur war es ihm klar geworden, das Geräusch eines Falls und dieser Körper hier gehörten zusammen, es war die Schwiegermutter, in die er hineingetreten war.

Ekel beschlich ihn, merkwürdige Gedanken tauchten in ihm auf. Wie lange dauerte es wohl noch bis Hilde diese kolossalen Gebirgsausmaße erreicht haben würde? Lange bestimmt nicht mehr.  Und: Schade, dass nie ein Kind ihren Bauch zuvor gewölbt hat, bestimmt hätte es riesig ausgesehen, wie eine wahre Wiedergeburt der Freya, groß, rund, stattlich, ja, göttlich wie diese runde Erde, gewalttätig wie deren Vulkane und genau so überraschend und plötzlich in ihren Ausbrüchen. Ja, gewiss, mehrmals war von ihr auch geschlagen worden, vor allem nachts, wenn er zu sehr an hier rumtapste und es nicht geklappt hatte. Hatte ihn dann zuerst geschlagen und dann geheult.

„Karl!!!!“ Ihre Stimme kippte jetzt wirklich fast in den Schlund zurück und eine gewaltige Angst kam dabei hervor. „Du Drömelarsch!  Was machst Du denn da? Räum das endlich weg!“
„Es ist Mutter“, antwortete er ihr, plötzlich ganz ruhig, als hätte er ausgerechnet jetzt seinen Frieden mit allem wieder gefunden.  Es geschah ihm von einer Sekunde zur anderen. Er erkannte seine eigene Stimme kaum, klang fast wie eine der angenehm männlichen Stimmen in den UFA-Filmen, die ihn hier nur als Klangkörper missbrauchte.
Ein Film der UFA, genau, Karl Feldmann als gescheiterter und wehmütiger Ehemann: “Hier ist die Leiche die sie suchen, Herr Kommissar!“
Es wurde dunkel im Flur, weil Hilde es inzwischen geschaffte hatte sich mit ihrem ganzen Körper in den Türspalt zu quetschen. Karl bückte sich, versuchte die Schwiegermutter dort zu berühren, wo er meinte, eine Schulter erkannt zu haben.  Die Stimme über ihm war kaum noch als die von seiner Hilde erkennbar, sie flatterte, krächzte schwach: „Mutter! Mama, was ist mit Dir? Mama, das darfst Du nicht, Mama, nicht jetzt, Bitte, lass mich nicht mit dem hier allein, hörst Du die Flieger, Mama! Komm hoch! Mein Gott, Karl so tu doch endlich was!“ Der Rest schon fast wieder in der ihm bekannten wenig melodiösen Färbung.

Aber er hörte es nur noch wie aus weiter Ferne, obwohl sie hier fast berührten, alle drei, fühlte sich weiter wie in einem Film, der ihn von hier fort zog, alles gehörte zum Drehbuch, war nicht wirklich schlimm, :“Nehmen Sie mich jetzt fest, Herr Kommissar?“ Aber wo blieb die Stimme von Hans  Albers, das Leuchten von dessen Augen im Dunkeln, das Knistern seiner Pfeife beim Inhalieren, , „Mal sehen, mien Dschung, so hastich mokt die das nich, die Pappenheimer hier, nee, bleev man ruhig, so schnell geht dat nich mit dem Verhaften!“

Stattdessen war da irgendwo ein Wimmern, ein paar Worte „Hör mit dem Drücken auf. Sag lieber Deinem Idioten, er soll mich hochziehen und nicht zu Tode trampeln!“
Karl drehte sich um. „Kann ich also gehen, Herr Kommissar?“
„Klar mien Dschung, Geh nur!  Wie find di wohl, wenn wi dik brouken! Aber: Lot di Tied!“
„Danke, Herr Kommissar! Sie müssen aber wissen, ich habe sie gehasst, meine Schwiegermutter!“
„Kloar, dat is keen Krom! Wer hasst nich sein Swiegermouder?! Nah, siehst!“
Das Leuchten der Augen von Hans Albers, da war es, sein süffisantes, gönnerhaftes Grinsen. Nur der übliche Schulterklopfer blieb aus. Dann verschwand der Hans und er sah plötzlich vor sich an der Wand das Verdienstkreutz, dass der tote Schwiegervater aus dem ersten Weltkrieg mit gebracht hatte. Karl drehte sich schnell weg, stieg langsam die Stiege runter, hielt sich dabei am Geländer fest, sah und hörte nicht zurück.
Karl spürte nur noch die pure Erleichterung.  

Hilde dagegen oben wurde immer verzweifelter.  Sie spürte, jetzt gegen eine Macht an kämpfen zu müssen, wie sie sie noch nie in ihrem Leben getroffen hatte. Sogar die weiter heulenden Sirenen machten ihr weniger Angst. Auch nicht der vor ihr verschwindende Karl. Irgendetwas anders schnürte ihr die Kehle zu, während sie verzweifelt versuchte sich von der Tür zu befreien, um ihrer Mutter endlich auf zu helfen.  Hatte sie Angst vor dem Sterben, war es das, hier fest zu sitzen, nur noch auf den Einschlag einer Bombe warten zu können, das Krachen, den Feuersturm, die Druckwelle, die Steine, die sie treffen würden beim Zusammensturz des Hauses.

Oder war es tatsächlich die Angst einer erwachsenen Tochter die Mutter verlieren, ab jetzt ohne sie leben  zu müssen,  nun allein mit diesem ja ganz offensichtlich schwachsinnig gewordenen Mann?  War es der endgültige Abschied von Kindheit, Jugend und Eltern, was ihr die Brust einquetschte und fast den Atem raubte?

Sie riss sich zusammen, solche Gedanken waren jetzt tödlich, sie mussten weg hier, schleunigst. „Hilf mir Mama, versuche Dich auf die andere Seite zu rollen, damit ich aus dem Zimmer kommen kann!“

Es klappte, sie hörte wie ihre Mutter sich ächzend umdrehte und es mehr Platz für die Tür gab. Aber von draußen hörten sie entsetzt die ersten Einschläge, das dafür typische Krachen und Bersten von Häusern und Dächern.  Kurz darauf zuckte und schüttelte sich ihr Haus. Von irgendwoher kam Brandgeruch. Vielleicht hatten sie unten ein Fenster abgekippt gelassen. Hatte Karl natürlich wieder übersehen.
„Feuer, Phosphor“, dachte Hilde. „Sie haben schon wieder Phosphorbomben geworfen.“ Damit war der Ausweg aus dem Haus zum Bunker abgeschnitten. Keine Chance. Sie hatte ihre beste Klassenkameradin durch Phosphor verbrennen sehen. Niemand hatte der noch helfen können und ihre Schreie klangen lange in ihr nach. Nein, auf weitere Phosphorabenteuer konnte sie gut verzichten.

Hilde schob sich ganz in den Flur, hing nun zwischen Stiege und Mutter, ließ sich nach unten gleiten und versuchte unter den Körper ihrer Mutter zu gelangen.
„Wir müssen in den Keller“, flüsterte sie, als könne das die Jäger abhalten, gerade jetzt auf sie die nächste Bombe ab zu werfen. Ihre Mutter wimmerte, sagte nichts, Hilde drückte von unten, versuchte die alte Frau an der Wand hoch zu drücken. Sollte sie die tragen müssen, gab es keine Möglichkeit mit ihr in den Keller zu kommen. Das wurde ihr langsam klar.

„Was ist denn passiert, Mama? Hat er Dich …?“ Sie ließ die Frage in der immer stärker nach Rauch stinkenden Luft hängen.  Sie wusste nicht, warum sie das jetzt fragte, wo sie nun wirklich andere Sorgen hatte. Sie traute es ihm ja auch gar nicht richtig zu, auch wenn er irgendwie plötzlich ganz sein Oberstübchen verloren zu haben schien.

„Ich weiß es nicht, Hilde! Ich weiß es nicht! Ich kam aus der Küche und wollte schon mal das Album holen, plötzlich wurde alles dunkel. Ich glaube, es geht mit mir zu Ende!“

„Unsinn, Mama! Das war bestimmt nur ein Schwächeanfall. Frau Jacobs gegenüber hat den vorige Woche auch gehabt. Das geht vorbei. Glaub mir!“

„Frau Jaacoobs!!!“ Vorwurfsvoll zirpte die Stimme von unten und wollte wohl sagen: „Mit der also vergleichst Du mich schon, der blöden Riesenkuh!“ So nannte sie die Jacobs immer.

Mit Karl, bereits etliche Meter weit weg vom Haus, ging es weiter wie im Film zu. Aber, nach dem Verlassen der Haustür und bei den ersten Schritten außerhalb hatte er dann doch noch ganz kurz fast normal gedacht: „Ich habe sie im Stich gelassen. Ich habe sie einfach da liegen lassen!“

Und doch wurde ihm sofort wieder warm bei dem Denken, neugierig hatte er zum Himmel hoch gesehen, wo viele hell blinkende Sterne schnell über ihn hinweg sausten, einige andere sich seinem Himmel über der Straße näherten.

Links und rechts von ihm schienen Häuser getroffen zu werden. Er hörte es Krachen, Knallen, Zischen und plötzlich warf ihn eine Druckwelle zu Boden. Er lächelte noch im Fallen still vor sich hin, rappelte sich etwas benommen wieder hoch und klopfte mechanisch seine Hosenbeine sauber. Das wollte Hilde immer. Sie mochte keinen Dreck an Hosen.

Normal brauchten sie 10 Minuten zu Fuß bis zum Bunker.  Dass er in diesen Minuten leicht getroffen, von Phosphor versengt, dadurch sterben könnte, auf diesen Gedanken kam er nicht. Stand nicht im Drehbuch seines Films. Ansonsten hätte Hans Albers ihn doch bestimmt gewarnt und nicht ermutigt los zu marschieren.  

Karl Feldmann fühlte sich einfach frei, drehte hier seine Rolle ab in dem Film, freute sich bereits auf dessen Ende und das Kino, dort würde er Hilde und ihrer Mutter den Streifen zeigen und sie könnten sehen, wie er mit dem Hans zusammen gespielt hatte.

Die Geräusche um sich herum hielt er für gelungene, irgendwie zugehörige Knalleffekte, damit der Film Dramatik gewinnt. Machten die ja immer so.

Dann tauchte ein altbekanntes Gesicht vor ihm auf, freundlich und Verständnis im Blick, unter dem auf der weiß bekittelten Brust ein Teleskop baumelte: „Tut mir leid, Feldmann! Mit dem Dienst am Vaterland wird es für sie nichts werden! Nicht an der Front und nicht hier beim Volkssturm!  Sie verstehen mich?!“

Auch Hilde tauchte jetzt auf, schob sich zwischen ihn und dem Arzt. Er hörte ihn weiter sprechen: „ Hat es mit Haltung genommen, Ihr Mann! Nicht mit der kleinsten Wimper gezuckt. Wäre bestimmt ein guter und tapferer Soldat gewesen! Schade drum!“ Karl sah Hildes skeptischen Blick sich ihm zu wenden. Da schloss er lieber schnell die Augen. Das wollte er jetzt nicht hier sehen, gehörte ganz bestimmt nicht in das Drehbuch.

 Weil er auch mit den Füßen nicht auf den Weg achtete, kam was mit geschlossenen Augen beim Gehen nun Mal häufig geschieht, Karl stolperte völlig ohne jede fremde Einwirkung, schlug mit seinem blanken Kopf, die Mütze hing noch im Flur, auf der Bordsteinkante auf. Dabei hatte er noch Glück, denn er landete mit dem Rest seines Körpers auf einem anderen, den er im Fallen mit sich gerissen hatte, und dieser schüttelte an seiner Schulter und irgendwoher kam eine Stimme bei ihm an.

"Sind Sie nicht Herr Feldmann?"

Er nickte, glaubte es jedenfalls, versuchte sich wieder aufzurichten, öffnete vorsichtig die Augen, noch etwas beseelt von der Angst, Hilde könnte ihn wieder kritisch anblicken, sah stattdessen  am Himmel die mörderischen  "Tannenbäume" zurückkehren, wollte sagen: "Wir müssen weg hier.  Sie kommen zurück." bekam aber nur ein heiseres Krächzen heraus.

Das junge Mädchen, dass ihn wieder erkannt und er mit sich ins Fallen gebracht hatte, fasste ihn unter, zog ihn hoch und hastig und kräftig die letzten Meter bis zum Bunker vorwärts.  Auf allen Vieren kroch er dort die Treppe mit ihr hinunter.“

So, jetzt war die Geschichte dort, wo sie mit meiner zusammenstieß, an jenem Abend war es geschehen, so hatte ich es von Roswita, soweit wollte ich ihr folgen und dann lieber erst mit der Stiefoma, hieß das wirklich so, über das Ganze reden.

Gespannt und neugierig stand ich am nächsten Morgen auf. Ich freute mich auf den Besuch, die nun auch ältere Frau wieder zu sehen, mich ein wenig wie üblich verwöhnen zu lassen.

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