Wie
oft schon hatten sie so zusammengesessen,
an diesem kleinen Tisch mit der durch die Tassen und Gläser arg in
Mitleidenschaft gezogenen Farbe, nun bereit an einigen Stellen auf zu platzen
und ab zu blättern, weil die Tischdecken geschont werden mussten, nur für
besondere Anlässe da waren, in diesem trüben Licht einer einzigen nackten
Glühbirne, die leicht zu schwingen begann in ihrer Fassung, wenn sie sich durch
den Raum bewegten, bei Luftalarm sofort von einem Handtuch bedeckt?
Karl
Feldmann fiel keine Zahl dazu ein, nur das Bild seiner Hochzeit mit Hilde in
diesem Stadtteil, in dem er seither wohnte, fern seines Stadtteils, der alten Freunde
und Nachbarn, der Eltern, die den Krieg nicht mehr erreicht hatten, verstorben
in den Hundejahren der zwanziger, Tuberkulose, wie so mancher seiner
Schulkameraden. 1932, das wäre eine Zahl gewesen. Oder sein damaliges Alter: 18 Jahre. Oder die Parteizugehörigkeit, seine
Parteizugehörigkeit, nicht ihre: 1 Jahr vor ihrem erstem Zusammentreffen.
Sie
waren tatsächlich, wenn auch zufällig am gleichen Tag eingetreten, in
verschiedenen Ortsgruppen. Er in seiner
am Bahndamm der Werkszüge für die Lagerhäuser und Werften, die Mühlen und
Kaffeefabriken, in der vor allem die Krauter, die Bürohengste mit ihren Miezen
und ein paar Arbeitslose die ersten Mitglieder stellten, sie hier, wo die Häuser klein und schmächtig
in erster Linie Arbeiter und kleinen Angestellteneinkommen gesicherten, warmen
Unterschlupf, und vor allem für sie ohne größere Einschränkungen finanzierbar,
bot, die Partei hier nur mühsam, so richtig eigentlich erst nach dem Sieg des
Führers über die Weimarer Republik, nennenswert Mitglieder gewann.
Auf dieser
gemeinsamen Veranstaltung im Norden der Stadt, im Herzen der Stadtteile der Roten,
mit dem späteren hiesigen Gauleiter, war es irgendwie mit ihnen geschehen,
vielleicht begünstigt durch die Stimmung, dieser Euphorie über den Sieg, das
Gefühl der Kraft und mit sicherer Zukunft in der Tasche, da es jetzt doch
endlich aufwärts gehen sollte, keine haarsträubende Inflation mehr, deren
Billionen-Scheine noch immer auf dem Dachboden in dem Pappkarton schmorten, auch keine Straßenschlachten mehr, keine Streiks,
keine Fluchten durch die hier so beliebten, notwendigen, lebensrettenden Schrebergärten
und über die Dächer von Feuerleiter zu Feuerleiter. Ja, er Karl, Karl Feldmann
hatte von alledem genug, die Schnauze voll, von diesen Roten, deren
Arbeiterparadies, das ja doch nicht kommen würde, nur Krieg und Verfolgung
auslösen konnte, er, Karl, wollte Sicherheit, jetzt und für immer, und seine
Ruhe.
Sie
jedenfalls war ihm um den Hals gefallen, einfach so, obwohl er sie gar nicht
kannte, bis dahin auch nicht beachtet hatte, obwohl ihr Röschenkleid mit dem
weit sich bauschenden Falten ab dem Po, ihre dunklen Haare, die in dichten
Locken ihr Gesicht umrahmten, diese strahlenden, blauen Augen in diesem Moment,
da sie sich förmlich in sein Leben hineinwarf, in seine nur zögernd sie
aufnehmenden Arme, ihm sofort gefielen, in etwa seinem Bild einer möglichen, netten
Braut entsprach und so fing er auf, was kam, hielt schüchtern fest, was da bei
ihm blieb und laut rief „Wir, wir die wir von Anfang dazu gehört haben, hört ihr?
Wir haben gesiegt! Wir sind Deutschlands Zukunft! Jetzt hält uns nicht mehr
auf!“ Und Karl, der zwar ähnlich dachte, fühlte, sich aber nie getraut hätte in
diesem Saal mit den hunderten von Leuten, so etwas laut von sich zu geben,
drückte sie zur Bestätigung, sagte nichts, genoss, was an Leib er spüren
konnte, riechen, drücken, den Grund des Widerstandes an bestimmten Stellen
erahnen, wartete ab, wie lange sie so bei ihm bleiben würde, während vorne auf
der Bühne der Redner das Mikrophon zerschrie und den Staub von den
Bodenbrettern hochstampfte, dass er wie Nebel um seine braune Hosenbeine
schwebte.
Ja,
so hatte es angefangen. Der erste von vielen späteren Abenden, an dem er nicht
mit seinen Nachbarn und Kumpels weiter gezogen war, auch Bier hatte er sich
nicht getraut in ihrer Gegenwart zu trinken und die Shag-Pfeife ließ er auch
lieber in der Jackentasche, wegen dem Atem.
Sie hat ihm nie erklärt, wie es zu diesem
Überfall, zu dieser Umarmung gekommen war, warum sie ihn ausgesucht hatte und
keinen anderen. Genug Auswahl war schließlich dagewesen. Sei es wie sei, gewesen ist gewesen, so oder
so, Karl dachte nicht gerne darüber nach, sinnlos erschien es ihm schon lange
mit den Gedanken in der Vergangenheit zu wühlen, auch diesen schönsten, ja sicher mit Abstand
schönsten Moment ihrer Beziehung suchte er nicht gerne auf, irgendwie schien es
ihm als lauere auch dort etwas Dunkles dahinter, was er besser nicht antraf
oder erfahren wollte. Heute ist heute, dachte Karl, „ändern kannste nix, musse
so hinnehmen“. Was konnte das Grübeln
schon bewegen, sind andere schon dran verrückt geworden. Er kannte da welche.
Dicht
an seinem Ohr plärrte der Volksempfänger auf dem Brett in der Ecke über dem
Tischchen mit der Leselampe, warum er immer so dicht daran sitzen musste, wo
Hildes Mutter doch schwerhörig war und er es nicht werden wollte, jedenfalls
saß er so dicht dran und bekam wider ein leichtes Ziehen in den Ohren mit
diesem Druck von ganz innen, bekam keine Erlaubnis das „Ding“, wie er es nur
noch nannte, einfach aus zu stellen, andererseits war es das einzig noch
intakte in dieser Küche, seitdem sie ihre Bomben über die Straßen hier warfen,
angekündigt wurden in dem „Ding“ anstelle von Etappensiegen, Aufmärschen,
Jubelfeiern, und diese Marika Röck und Zarah Leander mochte er aus dem „Ding“,
diesem „Kasten“ auch nicht mehr hören. Er mochte keine starken Frauen mehr.
Schon länger..
Vorsichtig
hob er die Tasse aus dem Geschirr der Schwiegermutter an den Mund. Wie alle
anderen aus dem Service, Alltagsservice, hatte auch diese ihren Henkel geben
müssen bei irgendeiner hektischen Flucht raus zum Bunker. Der Teller vor ihm
mit dem Brot hatte einen Sprung, würde sich vielleicht schon nach dem nächsten
Abwasch zerteilen und in den Müll wandern. Hilde stellte ihm von Anfang an das
kaputte Geschirr hin, als wollte sie ihm damit sagen: „Sieh her, was aus
unserem schönen Geschirr geworden ist! Und, was tust Du dagegen?“
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