Donnerstag, 25. April 2013

Vor Ort




Am Rande des Städtchens roch es nach den Tierkadavern aus der Fabrik gegenüber ihrer Neubausiedlung, als er wie jeden Dienstag am Morgen um die gleiche Zeit aus dem Haus trat, den Mülleimer an die Straße zu stellen und seine Leerung ab zu warten.

Mit seinen siebzig Jahren sah er sehr fit aus, hager und schlank, hoch aufgeschossen, immer gut gekleidet, so als habe er vor, an einer Feier teil zu nehmen. Das Bekleiden gefiel ihm und so zog er sich mehrmals am Tage um, lüftete auf Bügeln, aufgehängt am großen Kleiderschrank, legte alles ordentlich am Abend zurück auf einen Stuhl, zog es genau dreimal an, nie mehr, nie weniger.

Er sah kurz zum Himmel, auf dessen hellblauer Spiegelfläche der Wind die Wolken jagte, bisweilen kam es über ihnen zu regelrechten Formel-1-Rennen, mochte er, das, wie das Land, die Leute, die warme Klinkerwelt der Stadt. Zwar kam durch den Wind kaum mal etwas Ruhe und Stille auf, dafür ließen die Wolken meist woanders ihre Last ab, was im Winter wenig Schnee bedeutete, was er schade fand, vor allem wegen der Kinder.

Schräg gegenüber sah er das bläuliche Flackern eines Computers. Am Abend sah er vom Dachfenster aus viele solcher Lichter.  Er nahm an, dass da die Kinder vor saßen und spielten. 

Sein Nachbar in der anderen Doppelhaushälfte links war heute wohl mit dem Fahrrad zur Arbeit gefahren, denn sein Wagen stand noch vor der Tür. Etwas später würde seine Frau damit den Jungen zur Schule fahren, die Tochter von der Mutter einer Mitschülerin abgeholt werden. Die Kinder hier hatten weite Wege, dafür war das Bauland damals billig.

Das junge Pärchen von gegenüber musste wohl sehr früh raus, beide Parkplätze stets verwaist, hatte sie noch nie wegfahren sehen, wer sich wohl um das Kleinkind kümmerte, tagsüber, bisher war ihm niemand diesbezüglich aufgefallen.

Auch der Lieferwagen vom neuen Nachbarn auf der rechten Seite war bereits verschwunden.

Ihn hatte er während des Hausbaus öfter mal kurz gesprochen, meist über den Gestank der Tierkadaver und dem weichem, breiigem Geruch vom Ölwerk an manchen Tagen, hatte ihm erklärt es läge am Wind, von wo der käme und an den Containern, wo die Reste, die sie nicht verwerten konnten, hineinkämen, wenn die nicht richtig geschlossen wären, dann wäre das so mit dem Geruch, hatte ihm gegen Abrechnung Wasser und Strom überlassen, tat man hier so, aber dessen Frau bekam er kaum mal zu Gesicht, sie grüßte aber jedes Mal überaus freundlich, wenn er sie denn mal hier antraf.

Traute sich wohl noch nicht so richtig raus mit dem Baby.

Weiß und kantig hatten sie ihr Haus zwischen die überwiegend mit rotem Klinker bekleideten Doppelhaushälften gesetzt, allein, mit hoher Mauer und schon am Tag runtergelassenen Jalousien.

Die ersten Bewohner der Strafvollzugsanstalt in der Parallelstraße kamen mit ihren Plastiktüten auf dem Rückweg vom Supermarkt an der Bundesstraße an, sah sie wild gestikulierend  auf der anderen Straßenseite vorbei gehen, ohne dass sie ihm Beachtung schenkten. Ein Umweg, nicht groß aber ein Umweg, dachten wohl, so hielte man sie nicht für Knackis, wenn sie diesen nehmen.

Der alte Mann vom Grundstück ihres Gartens gegenüber schlurfte wie seit Jahren jeden Tag um diese Stunde und dann noch einmal gegen Spätnachmittag seine Runde „um den Pudding“, wie sie hier sagten, ging still auf seinem Gehweg direkt an ihm vorbei. Ein Rußlanddeutscher aus dem Kaukasus, vor 10, oder waren es bereits 15 Jahre, hierher gezogen mit 2 Kindern und Frau, nun schon länger allein in dem großen Haus.

Wie immer grüßte der mit einem Kopfnicken und einem verhalten freundlichem Lächeln. Gesprochen hatten sie noch nie miteinander. Ob seine Frau gestorben war, die Kinder im Streit geflüchtet, oder die Frau auch oder alle bei einem Unfall getötet?
Er wusste es nicht. Was wusste man schon hier, nichts Genaues jedenfalls. Das war sicher.

Auf jeden Fall war das hier eher Tagesordnung als Ausnahme, geschah ja öfter auf dem Land, vor allem die Jungen unterschätzten die Kurven und ihr Fahrerkönnen. So war ihm seine Familie abhanden gekommen damals, vor Jahren, auf der Umgehungsstraße. Der Verursacher war gleichfalls gestorben, in seinem Auto verbrannt. So konnte er keinen Groll gegen ihn pflegen, hatte sogar eine Beileidskarte an dessen Familie geschickt, jedoch niemanden davon erzählt, fühlte, dass das wohl besser so wäre. Leben hat seine Zeit, Trauer die ihre, dachte er. Irgendwie geht alles Mal vorbei.

Wo der neue Nachbar gebaut hatte war das Grundstück der Bauersfamilie, denen einst das ganze Land der Siedlung gehört hatte. Das Geld für den Verkauf hatte sie nur reich, nicht glücklich gemacht. Drei Kinder und der Vater begingen Selbstmord, alle mit Strick an der Decke im Stall. Ihr großer Hund kläffte laut und andauernd in seinem Stall, sehr zu ihrem Ärger, damals lebten noch alle hier im Haus, kam dann weg nach dem letzten Selbstmord und das Grundstück vergammelte, wurde am Ende sogar versteigert und die alte Frau, einzige Überlebende, verließ bis zu ihrem zwangsweisen Auszug nie mehr das Haus. Das Geld soll durch Unerfahrenheit verloren gegangen sein mit Investmentpapieren. Auch nicht schön, dachte er.

Ihm konnte es heute egal sein. Der Müllwagen war pünktlich Von der Tür aus sah er zu, wie der seinen Eimer mit zwei Greifarmen kurz hochhob, ankippte, etwas rüttelte und wieder absetzte. Er ging zu seinem Eimer hin, sah nach, ob er auch wirklich leer war, war er immer, rollte ihn zurück an seinen Stammplatz.

Die anderen Mülleimer erhoben sich weiter wie schwarze Pestbeulen unregelmäßig angereiht aus den Bordsteinen, mussten so bis zum Feierabend ihrer Besitzer ausharren.

Jetzt brauchte auch er nur noch zu warten. Manchmal geschah es, dass etwas geschah. Solange tat er eben, was man hier tat, grüßte wen man grüßte, überlebte, das irgendwie, immerhin etwas.

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