Mit
seinen siebzig Jahren sah er sehr fit aus, hager und schlank, hoch
aufgeschossen, immer gut gekleidet, so als habe er vor, an einer Feier teil zu
nehmen. Das Bekleiden gefiel ihm und so zog er sich mehrmals am Tage um,
lüftete auf Bügeln, aufgehängt am großen Kleiderschrank, legte alles ordentlich
am Abend zurück auf einen Stuhl, zog es genau dreimal an, nie mehr, nie
weniger.
Er
sah kurz zum Himmel, auf dessen hellblauer Spiegelfläche der Wind die Wolken
jagte, bisweilen kam es über ihnen zu regelrechten Formel-1-Rennen, mochte er, das,
wie das Land, die Leute, die warme Klinkerwelt der Stadt. Zwar kam durch den
Wind kaum mal etwas Ruhe und Stille auf, dafür ließen die Wolken meist woanders
ihre Last ab, was im Winter wenig Schnee bedeutete, was er schade fand, vor
allem wegen der Kinder.
Schräg gegenüber sah er das bläuliche Flackern eines Computers. Am Abend sah er vom Dachfenster aus viele solcher Lichter. Er nahm an, dass da die Kinder vor saßen und spielten.
Sein
Nachbar in der anderen Doppelhaushälfte links war heute wohl mit dem Fahrrad
zur Arbeit gefahren, denn sein Wagen stand noch vor der Tür. Etwas später würde
seine Frau damit den Jungen zur Schule fahren, die Tochter von der Mutter einer
Mitschülerin abgeholt werden. Die Kinder hier hatten weite Wege, dafür war das
Bauland damals billig.
Das
junge Pärchen von gegenüber musste wohl sehr früh raus, beide Parkplätze stets
verwaist, hatte sie noch nie wegfahren sehen, wer sich wohl um das Kleinkind
kümmerte, tagsüber, bisher war ihm niemand diesbezüglich aufgefallen.
Auch
der Lieferwagen vom neuen Nachbarn auf der rechten Seite war bereits
verschwunden.
Ihn
hatte er während des Hausbaus öfter mal kurz gesprochen, meist über den Gestank
der Tierkadaver und dem weichem, breiigem Geruch vom Ölwerk an manchen Tagen,
hatte ihm erklärt es läge am Wind, von wo der käme und an den Containern, wo
die Reste, die sie nicht verwerten konnten, hineinkämen, wenn die nicht richtig
geschlossen wären, dann wäre das so mit dem Geruch, hatte ihm gegen Abrechnung Wasser
und Strom überlassen, tat man hier so, aber dessen Frau bekam er kaum mal zu Gesicht,
sie grüßte aber jedes Mal überaus freundlich, wenn er sie denn mal hier antraf.
Traute
sich wohl noch nicht so richtig raus mit dem Baby.
Weiß
und kantig hatten sie ihr Haus zwischen die überwiegend mit rotem Klinker
bekleideten Doppelhaushälften gesetzt, allein, mit hoher Mauer und schon am Tag
runtergelassenen Jalousien.
Die
ersten Bewohner der Strafvollzugsanstalt in der Parallelstraße kamen mit ihren
Plastiktüten auf dem Rückweg vom Supermarkt an der Bundesstraße an, sah sie
wild gestikulierend auf der anderen Straßenseite
vorbei gehen, ohne dass sie ihm Beachtung schenkten. Ein Umweg, nicht groß aber
ein Umweg, dachten wohl, so hielte man sie nicht für Knackis, wenn sie diesen nehmen.
Der
alte Mann vom Grundstück ihres Gartens gegenüber schlurfte wie seit Jahren jeden
Tag um diese Stunde und dann noch einmal gegen Spätnachmittag seine Runde „um
den Pudding“, wie sie hier sagten, ging still auf seinem Gehweg direkt an ihm
vorbei. Ein Rußlanddeutscher aus dem Kaukasus, vor 10, oder waren es bereits 15
Jahre, hierher gezogen mit 2 Kindern und Frau, nun schon länger allein in dem
großen Haus.
Wie
immer grüßte der mit einem Kopfnicken und einem verhalten freundlichem Lächeln.
Gesprochen hatten sie noch nie miteinander. Ob seine Frau gestorben war, die
Kinder im Streit geflüchtet, oder die Frau auch oder alle bei einem Unfall
getötet?
Er
wusste es nicht. Was wusste man schon hier, nichts Genaues jedenfalls. Das war
sicher.
Auf
jeden Fall war das hier eher Tagesordnung als Ausnahme, geschah ja öfter auf
dem Land, vor allem die Jungen unterschätzten die Kurven und ihr Fahrerkönnen. So
war ihm seine Familie abhanden gekommen damals, vor Jahren, auf der
Umgehungsstraße. Der Verursacher war gleichfalls gestorben, in seinem Auto
verbrannt. So konnte er keinen Groll gegen ihn pflegen, hatte sogar eine
Beileidskarte an dessen Familie geschickt, jedoch niemanden davon erzählt,
fühlte, dass das wohl besser so wäre. Leben hat seine Zeit, Trauer die ihre,
dachte er. Irgendwie geht alles Mal vorbei.
Wo
der neue Nachbar gebaut hatte war das Grundstück der Bauersfamilie, denen einst
das ganze Land der Siedlung gehört hatte. Das Geld für den Verkauf hatte sie
nur reich, nicht glücklich gemacht. Drei Kinder und der Vater begingen
Selbstmord, alle mit Strick an der Decke im Stall. Ihr großer Hund kläffte laut
und andauernd in seinem Stall, sehr zu ihrem Ärger, damals lebten noch alle
hier im Haus, kam dann weg nach dem letzten Selbstmord und das Grundstück
vergammelte, wurde am Ende sogar versteigert und die alte Frau, einzige Überlebende,
verließ bis zu ihrem zwangsweisen Auszug nie mehr das Haus. Das Geld soll durch
Unerfahrenheit verloren gegangen sein mit Investmentpapieren. Auch nicht schön,
dachte er.
Ihm
konnte es heute egal sein. Der Müllwagen war pünktlich Von der Tür aus sah er
zu, wie der seinen Eimer mit zwei Greifarmen kurz hochhob, ankippte, etwas
rüttelte und wieder absetzte. Er ging zu seinem Eimer hin, sah nach, ob er auch
wirklich leer war, war er immer, rollte ihn zurück an seinen Stammplatz.
Die
anderen Mülleimer erhoben sich weiter wie schwarze Pestbeulen unregelmäßig
angereiht aus den Bordsteinen, mussten so bis zum Feierabend ihrer Besitzer
ausharren.
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