Mittwoch, 24. April 2013

Wo die Feuer von alleine brennen



Der Mann war Journalist und auf Recherche in einem armen Land. Dessen Hauptstadt war unter anderem bekannt durch einen riesengroßen Müllberg, auf dem Menschen lebten und ihr Einkommen durch Müllsammeln suchten. Der Besuch dort sollte den Abschluss seiner Reise bilden.
Kaum angekommen, inmitten von unzähligen Säureflüssen und einer Luft aus den Gasen der Verwesung unter seinen Füßen, umringten ihn bestimmt mehr als 50 fröhliche Kinder. Viele hatten Ausschlag, Ekzeme und alle Arten von sichtbaren Allergien. Eine Frau gab ihm ihr in dreckige Lumpen gewickeltes Baby in den Arm, soweit war alles wie immer an solchen Orten.  
Er lächelte in das verschmierte Gesicht des Säuglings und gab es der Frau zurück: „Ein schönes Kind haben sie da“, sagte er und verspürte keinerlei Gewissensbisse ob dieser Lüge. Er hatte gelernt sich in solchen Verhältnissen Vertrauen zu erwerben und Sympathie, ohne die er seiner Arbeit nicht so erfolgreich hätte nachkommen können.
Nach einem obligatorischen Besuch in den Hütten aus dem Material, dass der Müllberg bot, eingerichtet mit den Überresten moderner Zivilisation, zogen ihn die Kinder hinaus zu denen, die bereits am Müllsammeln waren.
Unterwegs sagte einer von ihnen, ein aufgeweckter, vielleicht achtjähriger Knabe: „Wir beschützen Dich! Du musst immer in unserer Nähe bleiben. Gehe hier nie ohne uns herum.“
Er sah dem Jungen in die Augen, hinter deren Fröhlichkeit ein großer, tiefer Ernst, ja Schmerz zu sitzen schien. Dann sah er die anderen Kinder an. Die nickten alle gleich ernst und stumm.
„Merkwürdig“, dachte er während er sich umsah, „in meinem Land kennt Armut keine Farben, nur Grautöne, oder schwarz und weiß.“
Hier flatterten bunte Plastikfetzen durch die Luft, schimmerten die Bäche bläulich und grün, sanft durchzogen von einem bräunlichen Gelb.
Egal ob groß oder klein, alle hatten Tüten bei sich, in die sie „Fundstücke“ steckten. T-Shirts, Gemüsereste, Töpfe und Plastikbehälter konnte er erkennen. Sie arbeiteten nur bei den frisch angekommenen Müllwagen, stocherten sofort nach dem Abkippen der „frischen“ Abfälle darin herum. Es sah gefährlich aus und war es wohl auch, so dicht standen sie hinter den Müllwagen.
Es fiel ihm auf, dass die Kinder sich bei seinem Schutz offensichtlich abwechselten. Sie wurden gebraucht beim Sammeln. Das Wort „Kinderarbeit“ mochte er bei diesem Anblick kaum denken. Das hier war eindeutig schlimmer als das Wort beschreiben konnte.
Nach einer Weile zogen sie ihn zurück zu den Hütten. Plötzlich wurden vor ihm einige unruhig und noch bevor sie ihm den Blick verstellen konnten sah er ihn, den Torso eines Menschen, offensichtlich tot da ohne Kopf, halb nur unter dem Müll verborgen. Der Wind musste ihn frei gelegt haben.
Der Junge, der wohl so eine Art Sprecher der Kinder zu sein schien, nahm ihn bei der Hand.
„Keine Angst, Herr Reporter, sie töten nur Erwachsene! Deswegen immer bei uns Kindern bleiben! Nie alleine rumlaufen!“
„Aber, das ist doch noch ein Junge!“ Er war sich sicher, dass der Körper vor ihm kaum über zehn Jahre alt geworden sein konnte.
„Nein, Herr, das ist Mario. Der war schon 14 oder 15.“ Die anderen Kinder nickten wieder zu seinen Worten, einige riefen:“Ja, es ist Mario. Er ist seit zwei Tagen schon verschwunden.“
Leicht benommen von der grausigen Entdeckung ließ er sich zu einer Hütte führen, die sie ihr Camp nannten, eine Art Versammlungshaus. Dort empfing ihn ein großer Kerl, dessen T-Shirt kräftige Arme preisgab. Sein Gesicht war freundlich und auch seine Augen lächelten fröhlich wie die der Kinder.
Er streckte ihm die Hand hin, begrüßte ihn und verlor sein Lächeln.
„Armer Mario“, sagte er mit Kummer in Stimme und Augen. „Ein guter Kerl, fleißig, sehr aktiv bei uns und mutig. Das haben sie gewusst und deswegen wohl getötet. Das tun sie immer, greifen sich unsere Besten und legen sie uns auf die Kippe um uns ein zu schüchtern.“
Sie setzten sich während die Kinder draußen stehen blieben und wohl Wache schoben. Der Journalist erfuhr, dass er zu Gast beim Chef der Bürgerwehr saß, der zugleich hier so etwas wie einen Bürgermeister abgab. Der Mann schien trotz seines Alters, Mitte zwanzig wohl, erstaunlich reif und mit natürlicher Autorität ausgestattet.  Der Besucher war beeindruckt und auch davon wie sachlich und ruhig der Mann ihre Situation schilderte.
Sie seien aus Imagegründen vor Jahren umgesiedelt worden. Man hätte ihnen abseits der Hauptstadt Toilettenhäuschen hingestellt und daran sollten sie ihre Hütten bauen. Aber weit und breit sei kein Einkommen, kein Job für sie erreichbar und für Landwirtschaft seien die Grundstücke viel zu klein gewesen. So seien sie mit Zeit fast alle hierhin zurückgekehrt. Daraufhin hätten die Morde begonnen und da sie von der Stadt oder Polizei keine Hilfe bekämen, weil sie sich hier ja „illegal“ aufhielten, hätten sie ihre eigene Schutztruppe gegründet und patrouillierten rund um die Uhr auf dem Berg. Auch die Kinder machten mit, da sie bisher nicht Opfer geworden wären. Ja, es gäbe seitdem deutlich weniger Morde. Auch sorgten sie untereinander dafür, dass alle sich hier gesittet benehmen und die größeren Kinder wie Mario unterrichteten die Kinder, damit sie wenigstens etwas Schulbildung bekämen.
„Mit der Ermordung von Mario haben sie nun versucht  eins unserer schlagkräftigsten Herzen zu töten. „
Der Besucher saß ruhig da, kannte die Geschichten um Todesschwadrone, die das Problem der Armut auf ihre eigene, verbrecherische und zynische Art versuchten zu bekämpfen. Die drehten ein in seinem Land bekanntes Wort eines Dichters einfach um: „Krieg den Hütten, Friede den Palästen“, dachte er.
Der Junge kam und beendete ihr Gespräch, in dem er dem Anführer etwas ins Ohr flüsterte. Der stand auf und sagte: „Sie müssen nun gehen. Die haben von ihrem Aufenthalt bei uns Wind bekommen. Die Kinder werden sie begleiten.“
Sie umarmten sich zum Abschied und der Besucher ging ein wenig wehmütig, winkte den Frauen mit ihren Säuglingen zu, die offensichtlich in der Stillzeit von der Sammelei auf dem Berg befreit wurden, und ging den Weg zurück. Nach ein paar Minuten bat er die Kinder zurück zu gehen. Er hatte Angst mit ihnen noch mehr auf zu fallen und glaubte auch nicht daran, dass diese Schwadrone wirklich die Kinder verschonen würden. Außerdem war ja heller Tag. Nach einigem Widerstand ließen ihn die Kinder alleine weiter gehen, nicht ohne ihm fröhlich nach zu rufen und zu winken.
Er kam bis zur breiten Auffahrt, geriet kurz zwischen zwei Müllwagen, dachte noch: „Elend hat doch Farben, mehr als der Reichtum, unendlich mal mehr, jedenfalls hier wo die Feuer von alleine brennen“, als ihn von hinten der Säbel in seinem Genick traf und seinen Kopf durch Abtrennen vom Körper am weiteren Denken hinderte.
Als die Kinder ihn später in der Nähe ihrer Hütten fanden schüttelten sie alle traurig den Kopf. Er war ihnen wirklich sympathisch gewesen.
„Wir hatten ihn doch gewarnt“, murmelten sie und liefen fort, die Nachricht den anderen zu überbringen.
In seiner Redaktion galt er seitdem als vermisst. Die Fahndung nach ihm wurde nach ein paar Monaten erfolglos eingestellt.

© Bild + Text: Jörn Laue-Weltring 2013

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