Der Mann war
Journalist und auf Recherche in einem armen Land. Dessen Hauptstadt war unter
anderem bekannt durch einen riesengroßen Müllberg, auf dem Menschen lebten und
ihr Einkommen durch Müllsammeln suchten. Der Besuch dort sollte den Abschluss
seiner Reise bilden.
Kaum angekommen, inmitten von unzähligen Säureflüssen und einer Luft aus den Gasen
der Verwesung unter seinen Füßen, umringten ihn bestimmt mehr als 50 fröhliche
Kinder. Viele hatten Ausschlag, Ekzeme und alle Arten von sichtbaren Allergien.
Eine Frau gab ihm ihr in dreckige Lumpen gewickeltes Baby in den Arm, soweit
war alles wie immer an solchen Orten.
Er lächelte
in das verschmierte Gesicht des Säuglings und gab es der Frau zurück: „Ein
schönes Kind haben sie da“, sagte er und verspürte keinerlei Gewissensbisse ob
dieser Lüge. Er hatte gelernt sich in solchen Verhältnissen Vertrauen zu
erwerben und Sympathie, ohne die er seiner Arbeit nicht so erfolgreich hätte
nachkommen können.
Nach einem
obligatorischen Besuch in den Hütten aus dem Material, dass der Müllberg bot,
eingerichtet mit den Überresten moderner Zivilisation, zogen ihn die Kinder
hinaus zu denen, die bereits am Müllsammeln waren.
Unterwegs sagte
einer von ihnen, ein aufgeweckter, vielleicht achtjähriger Knabe: „Wir
beschützen Dich! Du musst immer in unserer Nähe bleiben. Gehe hier nie ohne uns
herum.“
Er sah dem
Jungen in die Augen, hinter deren Fröhlichkeit ein großer, tiefer Ernst, ja Schmerz
zu sitzen schien. Dann sah er die anderen Kinder an. Die nickten alle gleich ernst
und stumm.
„Merkwürdig“,
dachte er während er sich umsah, „in meinem Land kennt Armut keine Farben, nur Grautöne,
oder schwarz und weiß.“
Hier flatterten
bunte Plastikfetzen durch die Luft, schimmerten die Bäche bläulich und grün, sanft
durchzogen von einem bräunlichen Gelb.
Egal ob groß
oder klein, alle hatten Tüten bei sich, in die sie „Fundstücke“ steckten.
T-Shirts, Gemüsereste, Töpfe und Plastikbehälter konnte er erkennen. Sie arbeiteten
nur bei den frisch angekommenen Müllwagen, stocherten sofort nach dem Abkippen
der „frischen“ Abfälle darin herum. Es sah gefährlich aus und war es wohl auch,
so dicht standen sie hinter den Müllwagen.
Es fiel ihm
auf, dass die Kinder sich bei seinem Schutz offensichtlich abwechselten. Sie
wurden gebraucht beim Sammeln. Das Wort „Kinderarbeit“ mochte er bei diesem
Anblick kaum denken. Das hier war eindeutig schlimmer als das Wort beschreiben
konnte.
Nach einer Weile
zogen sie ihn zurück zu den Hütten. Plötzlich wurden vor ihm einige unruhig und
noch bevor sie ihm den Blick verstellen konnten sah er ihn, den Torso eines
Menschen, offensichtlich tot da ohne Kopf, halb nur unter dem Müll verborgen.
Der Wind musste ihn frei gelegt haben.
Der Junge,
der wohl so eine Art Sprecher der Kinder zu sein schien, nahm ihn bei der Hand.
„Keine Angst,
Herr Reporter, sie töten nur Erwachsene! Deswegen immer bei uns Kindern bleiben!
Nie alleine rumlaufen!“
„Aber, das
ist doch noch ein Junge!“ Er war sich sicher, dass der Körper vor ihm kaum über
zehn Jahre alt geworden sein konnte.
„Nein, Herr,
das ist Mario. Der war schon 14 oder 15.“ Die anderen Kinder nickten wieder zu
seinen Worten, einige riefen:“Ja, es ist Mario. Er ist seit zwei Tagen schon
verschwunden.“
Leicht
benommen von der grausigen Entdeckung ließ er sich zu einer Hütte führen, die
sie ihr Camp nannten, eine Art Versammlungshaus. Dort empfing ihn ein großer
Kerl, dessen T-Shirt kräftige Arme preisgab. Sein Gesicht war freundlich und
auch seine Augen lächelten fröhlich wie die der Kinder.
Er streckte
ihm die Hand hin, begrüßte ihn und verlor sein Lächeln.
„Armer Mario“,
sagte er mit Kummer in Stimme und Augen. „Ein guter Kerl, fleißig, sehr aktiv
bei uns und mutig. Das haben sie gewusst und deswegen wohl getötet. Das tun sie
immer, greifen sich unsere Besten und legen sie uns auf die Kippe um uns ein zu
schüchtern.“
Sie setzten
sich während die Kinder draußen stehen blieben und wohl Wache schoben. Der
Journalist erfuhr, dass er zu Gast beim Chef der Bürgerwehr saß, der zugleich
hier so etwas wie einen Bürgermeister abgab. Der Mann schien trotz seines
Alters, Mitte zwanzig wohl, erstaunlich reif und mit natürlicher Autorität
ausgestattet. Der Besucher war
beeindruckt und auch davon wie sachlich und ruhig der Mann ihre Situation
schilderte.
Sie seien aus
Imagegründen vor Jahren umgesiedelt worden. Man hätte ihnen abseits der
Hauptstadt Toilettenhäuschen hingestellt und daran sollten sie ihre Hütten
bauen. Aber weit und breit sei kein Einkommen, kein Job für sie erreichbar und
für Landwirtschaft seien die Grundstücke viel zu klein gewesen. So seien sie mit
Zeit fast alle hierhin zurückgekehrt. Daraufhin hätten die Morde begonnen und
da sie von der Stadt oder Polizei keine Hilfe bekämen, weil sie sich hier ja „illegal“
aufhielten, hätten sie ihre eigene Schutztruppe gegründet und patrouillierten
rund um die Uhr auf dem Berg. Auch die Kinder machten mit, da sie bisher nicht
Opfer geworden wären. Ja, es gäbe seitdem deutlich weniger Morde. Auch sorgten
sie untereinander dafür, dass alle sich hier gesittet benehmen und die größeren
Kinder wie Mario unterrichteten die Kinder, damit sie wenigstens etwas
Schulbildung bekämen.
„Mit der Ermordung
von Mario haben sie nun versucht eins
unserer schlagkräftigsten Herzen zu töten. „
Der Besucher
saß ruhig da, kannte die Geschichten um Todesschwadrone, die das Problem der
Armut auf ihre eigene, verbrecherische und zynische Art versuchten zu
bekämpfen. Die drehten ein in seinem Land bekanntes Wort eines Dichters einfach
um: „Krieg den Hütten, Friede den Palästen“, dachte er.
Der Junge kam
und beendete ihr Gespräch, in dem er dem Anführer etwas ins Ohr flüsterte. Der
stand auf und sagte: „Sie müssen nun gehen. Die haben von ihrem Aufenthalt bei
uns Wind bekommen. Die Kinder werden sie begleiten.“
Sie umarmten
sich zum Abschied und der Besucher ging ein wenig wehmütig, winkte den Frauen
mit ihren Säuglingen zu, die offensichtlich in der Stillzeit von der Sammelei
auf dem Berg befreit wurden, und ging den Weg zurück. Nach ein paar Minuten bat
er die Kinder zurück zu gehen. Er hatte Angst mit ihnen noch mehr auf zu fallen
und glaubte auch nicht daran, dass diese Schwadrone wirklich die Kinder
verschonen würden. Außerdem war ja heller Tag. Nach einigem Widerstand ließen
ihn die Kinder alleine weiter gehen, nicht ohne ihm fröhlich nach zu rufen und
zu winken.
Er kam bis
zur breiten Auffahrt, geriet kurz zwischen zwei Müllwagen, dachte noch: „Elend
hat doch Farben, mehr als der Reichtum, unendlich mal mehr, jedenfalls hier wo
die Feuer von alleine brennen“, als ihn von hinten der Säbel in seinem Genick
traf und seinen Kopf durch Abtrennen vom Körper am weiteren Denken hinderte.
Als die
Kinder ihn später in der Nähe ihrer Hütten fanden schüttelten sie alle traurig
den Kopf. Er war ihnen wirklich sympathisch gewesen.
„Wir hatten
ihn doch gewarnt“, murmelten sie und liefen fort, die Nachricht den anderen zu
überbringen.
In seiner Redaktion
galt er seitdem als vermisst. Die Fahndung nach ihm wurde nach ein paar Monaten
erfolglos eingestellt.
©
Bild + Text: Jörn Laue-Weltring 2013
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