Dienstag, 25. Juni 2013

Der bestellte Sommer

für Heiko Bauriedl der weiß warum



Lieber alter Freund, stelle Dir vor, ruft mich mein Lektor dieser Tage an und bestellt im Auftrag seiner Verlegerin eine aktuelle Sommergeschichte bei mir, auf keinen Fall aber solle ich wieder über die Vergangenheit schreiben, nein, auf jeden Fall müsse es etwas über Sommer heute sein, am besten über den aktuellen Sommer, denn sie plane eine Ausgabe mit Sommergeschichten ihrer Autoren.
Auf meinen Einwurf, dass das Buch doch wohl für diesen Sommer zu spät käme und ob sie denn meine, die Leute hätten im Herbst wirklich noch Lust über diesen Sommer zu lesen mit all seinen Überschwemmungen, Stürmen, Zerstörungen in den Städten und Häusern, getöteten Menschen und Tieren und die lange noch nachdauernden üblen Gerüche über Seen und Flüssen, die Badeverbote wegen Krankheitserregern und Giften, so etwas wolle doch keiner mehr lesen, auf all das antwortete der doch glatt, dass es ja positive Geschichten sein sollten, Sommergeschichten wie die von Tucholsky damals, und es solle erst im nächsten Frühjahr erscheinen und zwei Wochen hätte ich Zeit, alle anderen hätten bereits zugesagt, zumindest die Lebenden.
Und so, lieber Freund, sitze ich nun hier und quäle mich noch mehr mit diesem Sommer ab, der heuer, bisher jedenfalls, noch nicht einmal ein richtiger Sommer war, muss es, ja, kann, darf nicht fehlen in dieser bekloppten Anthologie, da bei den paar Autoren dieses Kleinverlages, der dankenswerter Weise mir beim Überleben hilft und das dank dieses famosen Lektors, der als erster und bisher einziger mein Geschreibe für den Buchmarkt fähig hielt und, auch dies gerne zugegeben, durch seine feine Lektorarbeit an meinen Zeilen tatsächlich auch mit Erfolg für den Verlag und mich verwirklicht hat, also bei den paar Autoren ich sofort auffiele, wenn ich fehle und wer weiß schon die Konsequenzen von so etwas und so richtig leisten kann ich sie mir auch eher nicht.
Andererseits, Du weißt es ja selbst, in unserem Alter freuen wir uns mehr über Frühling und Herbst, vertragen die Hitze von Sommer und die Kälte vom Winter nicht mehr so recht und sind jedes Mal froh und erleichtert, wenn wir sie gesund überstanden haben.
Natürlich, früher war das anders, ganz anders, da gingen die Träume des Frühlings im Sommer in Erfüllung, da gab es nichts schöneres als aus der Hitze ins Wasser zu springen, zwischen den hohen Halmen zu radeln, über Berge und Brücken zu wandern, vor den Cafés an Getränken zu nippen, leicht bekleideten Mädels hinter her zu gaffen mit der damals zumindest noch theoretischen Chance auf ein schönes Abenteuer. Aber über diese Sommer soll ich ja dieses mal nichts von mir geben.
Stattdessen über heute, jetzt, diese Wochen, und da erklärt mir gerade der Radiowitzbold auch noch, dass heute der Welttag des Stacheldrahtes sei, weil der heute vor mehr als hundert Jahren zum Patent angemeldet worden sei. Stacheldraht! Welttag! Als wenn der das Wasser aufhalten könnte oder den Sturm bändigen. Im Sonnenschein sieht er auch nicht gerade schön aus, obwohl er schon zum Sommer gehört, weißt Du noch, wie wir unsere Hose an ihm rissen und dafür Ärger zu Hause bekamen, obwohl das auch im Herbst geschah wegen der schönen Äpfel.
Also den Stacheldraht lasse ich besser auch weg.
Was fängst Du mit dem Sommer an? Verkriechst Du Dich wie ich in den Schatten, schaust grimmig das Thermometer an, fallen Dir auch alle Bewegungen schwer, weil die Knochen matt und schlapp sind von der Hitze, oder sind es die langsam sich mehr und mehr sperrenden Muskeln?
Sehnst Du auch den milden Abend herbei, fängst erst dann an zu aufzuleben, genießt auf der Terrasse den Abendschmaus bei einem kühlen Glas Weißwein oder angenehm temperierten Rotwein?
Ich jedenfalls kenne nichts was mir heute mehr gefiele als diese angenehm warmen Sommerabende auf der Terrasse oder auf dem Rad bei einer kleinen Abendtour zwischen den Feldern und Weiden. Nur hatten wir bisher dieses Jahr davon man gerade eine Handvoll, vor und nach den Wassermassen und Stürmen.
Aber weißt Du, was ich nach wie vor merkwürdig und phantastisch finde: kaum sitze ich wie beschrieben am Abend mit meiner Frau so angenehm in die Nacht hinein, sind Wasser und Sturm wie ausgelöscht, als gäbe es sie nicht, nur diese herrlich entspannenden Wohlfühlmomente. Diese Fähigkeit scheint der Sommer auch uns Älteren, Alte darf man ja nicht mehr sagen, geschweige denn schreiben und das Wort Senioren mag ich nicht, jedenfalls bleibt diese Fähigkeit auch uns erhalten und schafft es weiterhin, dass auch wir dem Sommer noch etwas abgewinnen können.
Früher haben wir im Sommer ja regelmäßig unseren Urlaub gemacht, möglichst dort, wo garantiert die Sonne scheint. Heute aber verreisen wir nur noch im Frühling und Herbst, jeweils für ein paar Tage, nicht mehr diese langen drei Wochen, wozu auch, haben wir es uns daheim doch auch recht kommod eingerichtet, ja ich liebe dieses Wort „kommod“, und so freuen wir uns schon nach kurzen Ausflügen fast mehr auf unser Zuhause als vorher auf die Urlaubsfahrt. Na ja, fast.
Und nun grübele ich, wie daraus mir eine Erzählung zu wachsen soll, so eine richtige mit Handlung, Start, spannendem Höhepunkt und möglichst Happy End. Auf unserer Terrasse geschieht ja nichts, was wir auch sehr begrüßen. Ruhe suchen wir dort, keine Abenteuer. Das Aufregendste sind dort ein Igel, der in den Abendstunden schmatzend um unsere Terrakotta Töpfe streicht und die Fledermäuse, deren Körper für kurze Momente als kleine Schatten über uns hinweg huschen.
Spannender geht es natürlich auch zu, wenn die Kinder mit den Enkeln uns besuchen und wir auch die Hitze mit ihnen unter der Jalousie verbringen, den Kleinsten zu sehen oder mit ihnen herumalbern und soweit es uns möglich ist herumspielen. Ja, das genießen wir natürlich sehr und es ist im Sommer allemal schöner, herrlicher und lenkt wunderbarer ab, als zu den anderen Jahreszeiten in denen wir nur Spaziergänge mit ihnen machen können und ansonsten uns in Räumen aufhalten, meist Gaststätten mit irgendwelchen angeblich sensationellen Gerichten, die wir unbedingt probieren wollen oder sollen, während die Enkel sich eher langweilen und mühsam bei Laune gehalten.
Wir freuen uns jetzt schon auf den nächsten Besuch, da mag der Stacheldraht ruhig heuer seinen Welttag haben, und hoffen dafür auf Sonne und klaren Himmel.
Überhaupt der Himmel, findest Du nicht auch, dass der im Sommer stets am schönsten und aufregendsten ist? Man kann ihn von der Liege oder der Terrasse aus betrachten und in seinem Blau versinken, den Wolken nachschauen, sich von deren Formen erheitern lassen und bezaubern. Sommerhimmel, ein Gottesgeschenk, ein Hinweis auf das himmlische Paradies von dem so viele Menschen hoffen, es möge sie nach ihrem Weggang von hier in Gnaden aufnehmen für alle Ewigkeit.
Ist das Paradies wirklich ewiger Sommer? Ich möchte im Paradies auf keine der Jahreszeiten verzichten, stört der Körper sich doch nicht mehr an ihren Auswüchsen und Extremen, kann man endlich wieder alles so genießen wie einst in Kindertagen. Also, wenn es den gütigen Herrn geben sollte und sein ewiges Himmelreich, dann bitte mit allen Jahreszeiten und auch auf keinen Fall nur tropisch, also nur mit Regen- und Sommerzeit und schon gar nicht nur mit Sommer.
Wo aber nehme ich jetzt bloß eine Geschichte her, eine so schön wie die von dem Tucholsky mit seinem Schloss Gripsholm, dass der ja angeblich auch aufgrund eines solchen dubiosen Verlangens seines Verlegers geschrieben haben soll.
Seit ich verheiratet bin und das mehr und mehr mit den Jahren, gelingt es mir kaum noch Liebesgeschichten zu erfinden und mich daran zumindest beim Schreiben zu vergeben, bis sie zu Ende geschrieben ist. Ich kann sie auch nur in Vergangenheitsform, als gegenwärtig erscheint es mir absurd. Und die Liebe, die ich heute so genieße, ist keine Geschichte, keine Handlung, mehr ein Zustand, ein Dasein, ein kühlender Fächer im Sommer, ein wärmender Kachelofen und Wärmflasche zugleich im Winter, ist ein Blick in die Augen, gemeinsames Schweigen und Ruhen, mit vier Augen durch die Welt sehen, mit dem Körper des Anderen als zutiefst erkundete Landschaft, bestens vertraut und immer wieder als herrlich empfunden nicht zuletzt aufgrund der alten Erlebnisse und neuen, jungen Begegnungen mit der Schönheit des Alters.
Hörst Du, lieber Freund, sie hier lachen, sie lacht, weil sie die letzten Zeilen mitgelesen hat und versucht meine Glatze zu küssen und fest zu halten. Jetzt verdreht sie mir doch glatt den Kopf, ja in echt, dreht ihn so, dass ich nur noch blind tippen kann und ich ihr in die Augen sehen muss.
Und da sehe ich ihn wieder, meinen alten Frühlingstraum, sie, in der engen, noch tatsächlich im Sinne des Wortes, Bluejeans mit dem rotbraunen Ledergürtel, darüber diese weiße Bluse, die um ihren schlanken Oberkörper in kleinen Wellen flattert, ihr kräftiges, braunes Haar über meinen Augen tanzen und schmecke ihre Lippen.
Und jetzt küsst sie mich auch noch, hält weiter meinen Kopf fest, als wolle ich es nicht ebenso, küsst und mir wird ganz warm und kuschelig.
Ihre Arme sind weicher geworden, ihre Berührungen zarter, Kleider und Röcke mag sie inzwischen lieber als Hosen, wegen der Figur, wie sie meint, aber Blusen kräuseln sich immer noch um ihren Oberkörper und flattern leicht im Wind. So auch jetzt, wie sie da vor mir steht, die nackten Füße in den modernen Gummilatschen, fest im Stand, als müsste sie mich halten, dass ich nicht umfalle. Und küsst mich schon wieder.
„Was ist los“, schaffe ich es nach einem Kuss sie zu fragen.
„Na was? Sommer ist!“ antwortet sie ironisch, nein auch zärtlich mich angrinsend.
Sie hat recht, bei mir gehen plötzlich alle Türen auf und ich empfange den Sommer, den schönsten wie immer, den, den wir brauchen für unsere Körper und unser Seelenheil und umarme sie fest, genieße den Gegendruck ihres Bauches, spüre an der Wange ihren Busen und rieche, ja was? Ja, ich rieche ihn, rieche den Sommer!
Ziehe sie mir herunter, auf den Schoß und zusammen tippen wir weiter, starten mit einem Ausflug zu den Flusswiesen, auf denen wir unsere Wolldecke ausbreiten, wo wir uns langsam gegenseitig die Kleidungsstücke entfernen und daraufhin der schwache Wind aus dem leisen Rascheln der Büsche über unsere noch wintermüde Haut streichelt.
„Geht doch,“ meint sie und zeigt auf die Schwäne, die langsam an uns vorbeigleiten, die Raubvögel über den Baumkronen der Flussaue auf der anderen Seite.
„Siehst Du, wie immer!“
Ich sage nichts, will nur noch genießen, sie sehen, die Sonne spüren, den Himmel sehen, vergessen, wie viel Tage, Wochen, ja Monate ohne ihn verstrichen sind. Will nur noch das hier, was wir uns jeden Sommer gönnen, vor allem wenn aus den Nachbargärten die Grillschwaden zu uns herüber ziehen.
Den Geruch mögen wir nicht so gerne, jedenfalls nicht so häufig. Er kratzt uns zu sehr an unserem Sommergenuss.
Und so fliehen wir an den Fluss, kennen diese Stelle, die sonst keiner zu kennen scheint, schon lange, haben hier früher mit den Kindern gezeltet, davor sie hier vielleicht gezeugt, zeitlich käme es hin, und streicheln uns jetzt, einfach so, aus purer Lust am Streicheln, nicht mehr so wie zu Beginn unseres Liebens hier mit Ziel und Drang nach Erlösung, nein, heute sind wir schon vorab erlöst, streicheln und lassen geschehen, geben unseren Händen freien Auslauf, genießen einfach, was unsere Körper zu erzählen haben, gleiten von einer Handlung in die nächste, treiben wie auf einem Floß dahin, haben auch keinen Picknickkorb wie früher dabei, lassen den Hunger daheim, hören alles was um uns herum zwitschert, kaum wahrnehmbar ächzt und stöhnt am Wiesenrand, was flattert in den Lüften, uns selbst, unseren Herzschlag, den Atem, bis wir wie jedes Mal nichts mehr hören außer uns selbst, nichts mehr sehen mit den Augen, nur noch von innen uns schauen, dieses klare phantastische Bild von uns beim sommerlichen Lieben.
Sanfte Ermattung und kicherndes, aufgeregtes Flüstern wechseln sich ab mit Schlingern und Tanzen der Körper, mit entspannten Liegen Bauch an Bauch, Gesicht an Gesicht, während ich wie immer das Gefühl habe, ihr Haar rieche im Sommer einfach am schönsten, irgendwie sommerlich.
Wir haben kein Alter mehr, sind wieder zeitlos und unsterblich, haben keine Verpflichtungen mehr, weder im Haus noch auf der Arbeit, müssen nicht gehorchen und nicht lernen, haben keinen Wunschzettel, der vergeblich auf die Geschenke wartet, sind beschenkt, sind im Heute, im Hier und Jetzt in der größten Weite, die Leben bieten kann, sind das ganze Leben, nicht mehr nur durchorganisiertes Kleinteil davon, tanzen leicht über die Gräser, schweben liegend zu den Wolken, alles ist Gefühl, Gefühl ist wieder alles, wirklich alles und alles ist Liebe.
Aber das hier kann ich den Lesern natürlich nicht erzählen, geht sie nichts an, auch Dich geht es nichts an, lieber Freund.
Dieser Sommer gehört nämlich uns, meiner Frau und mir, ganz allein und wenn wir uns etwas wünschen, dann das, dass unsere Kinder auch möglichst viele dieser Sommer erleben mögen mit ihren Liebsten.
Und wie so häufig fallen gegen Abend plötzlich diese kleinen warmen Sommertropfen auf unsere Haut, die sich darauf und darüber freut. Unsere Gesichter sehen aus, als weinten wir, und ein bisschen tun wir es auch, innerlich. Wir weinen vor Glück.

„Und deine Sommergeschichte?“
„Züchte ich mir einen Kaktus drauf! Wer braucht im Sommer angebliche Sommergeschichten? Die will man doch lieber selber erleben und nicht nur lesen.“


In diesem Sinne, mache es gut, lieber alter Freund, bis zum nächsten Mal und schenke Dir und Euch Beiden in unserem Namen auch einen herrlichen Sommer ein, mit allen euren Zutaten.


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