Er
hatte vor allem diese Anblicke satt, tote Fixer nach einer Überdosis in
vermüllten Räumen. So wie der hier, der vor ihm in der Küche auf dem Boden lag,
verkrümmt, gelblichen Schaum vor dem Mund, das Übliche halt.
Sein
Bruder war dank seines Arbeitgebers, einer Großbank, bereits im Vorruhestand.
Zwei Jahre noch, dann würde er auch gehen und gleich ihm den Ruhestand genießen
können. Martin Hegels sah zu den Kollegen, die ihr Ritual abspulten, als ginge
sie das hier alles nichts an. Draußen bewies starkes Vogelgezwitscher wie früh
am Morgen es noch war. Die Vögel mussten ihre Nester auf dem Trümmergrundstück
der alten Druckerei gebaut haben. Ein wenig naturnaher Anblick dort draußen.
Darüber konnte auch ihr Gezwitscher nicht hinweg täuschen.
Er
zog sich in den Schlaf- und Wohnraum zurück, eine kleine billige Bleibe für
eine Person oder ein junges Pärchen, dachte er. Eine Kapitalanlage aus der
Nachkriegszeit, billig hochgezogen in unmittelbarer Nachbarschaft zum
Gewerbegelände, ein Bauunternehmer, der seine Firma mit den Mieteinnahmen
gegenüber der Bank absicherte. Er hatte ihn noch gekannt, jetzt aber gehörte
der Kasten dem Enkel, der statt Bau lieber auf Internet machte.
„Hat
jemand den Eigentümer informiert?“
Irgendjemand
rief „Ja!“ und damit war auch das geklärt. Martin Hegels setzte sich auf das
kleine Ikea-Sofa und sah sich um. In Gedanken formulierte er den Bericht und
griff, warum auch immer, nach einem roten Lederkoffer, der unter dem Sofa hervor
sah. Er zog, bekam ihn frei und legte ihn mangels Platz auf dem Tisch, auf das
Sofa, öffnete ihn.
Dann
wachte er auf, alle Routine fiel von ihm ab, denn so viel Geld hatte noch nie
vor sich gesehen. Er war schließlich nur zuständig für Tötungsdelikte, also
Tote, deren Ableben auf Fremdeinwirkung von ihm überprüft werden mussten. In
dieser Stadt kam es aber selten vor, die meisten Todesfälle hatten natürliche
Ursachen, und dazu zählte die Überdosis hier inzwischen auch.
Geld
fanden sie eher weniger vor, eher Schulden ihnen sichtbar durch ungeöffnete
Briefe mit Mahnungen.
Und
jetzt das hier, unvorstellbar viele große Euro-Scheine die ihn frisch und
farbenprächtig ansahen. Da er keine Erfahrung mit solchen Geldmengen hatte,
konnte er auch nur schwer die Höhe des Betrages schätzen.
Martin
Hegels sah sich um. Er war allein im Raum, die anderen waren entweder in der
Küche oder auf dem Flur beschäftigt. Keiner hatte den Koffer bisher erwähnt
und, da er ja unter dem Sofa gelegen hatte, wohl auch nicht bemerkt. Wie leicht
wäre es den jetzt …!
Er
schüttelte spontan den Kopf. Klar, eine Aufbesserung der Pensionsbezüge käme
nicht schlecht und vielleicht gelänge es ihm unbemerkt ein paar Stapel
Geldscheine in seine Taschen zu verfrachten. Aber er hatte noch nie gerne etwas
riskiert und würde sich mit üblen Gedanken und sowieso jetzt schon schlecht
durchschlafenden Nächten für den Rest seines Lebens damit abquälen müssen. Das
war es ihm nicht wert.
Philipp
Knurr riss ihn aus diesen Gedanken und Möglichkeiten.
„Wir
sind fertig, hast Du noch etwas Auffälliges?“
Martin
klappte den Koffer zu, stellte ihn neben das Sofa, erhob sich und ging zur Tür.
„Nein,
Du?“
„Nein,
die Anderen sind schon weg und die Kollegin vom Rauschgift wusste auch nicht
viel über den Verstorbenen.“
„Dann
sieh Dich nochmal hier um. Ich fahre schon zurück und bereite den Bericht vor.“
Damit
ging er schnell an seinem Kollegen und wahrscheinlichen Nachfolger vorbei,
bevor der protestieren konnte wie üblich, ging zur Tür und zur Wohnung hinaus.
Er
wusste nicht, warum er so gehandelt hatte. Natürlich hätte er Philipp auf den
Inhalt des Koffers hinweisen müssen und der hatte ja auch gesehen, wie er ihn zugeklappt
und neben das Sofa gestellt hatte.
Bei
der schön restaurierten Gründerzeitvilla, ihrem alten Hauptgebäude, am Rande
der sogenannten City mit ihren drei Einkaufsstraßen angekommen, ging er angewidert
weiter zu dem Neubau dahinter, wo er nun für die kurze Restzeit noch ein
sogenanntes modernes Büro hatte beziehen müssen. Er rief alte Berichte über
ähnliche Fälle auf und kopierte Textpassagen, die ihm hier auch zu passen
schienen und wartete gespannt auf die Rückkehr des Kollegen.
Kein
ihm sehr angenehmer Kollege. Dreist, oft unbeherrscht, jedenfalls ihm
gegenüber, aber immer freundlich , höflich zu anderen, vor allem Vorgesetzten,
ein übler Besserwisser noch dazu, der überall seinen Senf dazu geben musste und
in jeder Gesprächsrunde es irgendwie schaffte das Gespräch an sich zu ziehen
für seine Kommentare zur Welt und allen Dingen des Lebens. Man konnte kaum
etwas sagen, ohne dass er es nicht als Stichwort nutzte für sein bisschen Erlebtes
und Wissen.
Seitdem
der da war, mochte Martin Hegels nicht mehr an ihren Pausenrunden teilnehmen.
Er wusste, dass er sich damit im Kollegenkreis isolierte, wobei er stets ein
wenig für sich geblieben war. Er galt als nett, ein wenig langweilig, aber
kompetent und zuverlässig in der Arbeit, nicht über korrekt aber auch kein
Schlamper. Er wusste das, kannte die Meinung der Anderen über sich, die ihn
weder störte noch verwunderte. Er war, wie er war und insgesamt recht zufrieden
mit dem Verlauf seines Lebens und der Arbeit.
Bis
dieser Kollege kam und er ihn einarbeiten sollte für die Zukunft. Er hatte es
zu Beginn gerne getan, versprach es ihm doch das Ende seiner Totenaufsucherei
und Tatortbegegnungen, ein Entkommen aus dem Milieu, dessen Geruch und
Atmosphäre ihm immer mehr am Leib blieben und in der Nase hingen, sogar zu
Hause in seinem Garten noch präsent waren, in dieser so völlig anderen Welt der
Jahreszeiten und kleinstädtischen Wohlstandslandschaft und Architektur.
Mit
der Zeit hatte er immer weniger Lust auf diese Einarbeitung gehabt, da Philipp
Knurr sich als illoyal herausstellte, schnell die Führung übernahm und immer
wieder ausgebremst werden musste, was den aber nicht davon abhielt, weiter sich
auf zu spielen. In letzter Zeit tat der fast so, als wenn Martin Hegels bereits
nicht mehr da und in anderen Situationen, als wenn er nicht mehr arbeitsfähig
wäre.
„Das
nehme ich Dir ab!“ und „Kann ich doch machen!“ oder „Lass mal!“ waren die dazu
gehörigen Sätze.
Ja,
Martin Hegels war es leid, mochte seinen Kollegen und Nachfolger nicht, mochte
ihn so wenig wie dieses kalkweiße Büro mit den neuen Möbeln ohne Geruch und
Wärme, wie es die alte Ausstattung in der Villa noch gehabt hatte, zwar schon
lange nicht mehr modern, eher fast noch kaiserzeitlich, aber aus Holz, war Natur,
mit gelebtem Leben, Spuren von Besuchern, freiwilligen wie unfreiwilligen, und
seiner Arbeit.
Und
sein Kollege ließ auf sich warten. Bis zum Feierabend tauchte er nicht wieder
auf. Martin Hegels schwieg darüber gegenüber den anderen, verabschiedete sich
nach Hause und ging zufrieden aus dem Gebäude.
Nein,
er hatte es nicht wirklich so geplant oder fest gewollt. Er hatte es geschehen
lassen und was ihm jetzt Befriedigung verschaffte, dass er mit seinem
Negativgefühl gegenüber dem Kollegen richtig gelegen hatte. Wie so oft bei
manchem Täter. Nicht zufällig hatte er schließlich 98% der Fälle aufgeklärt zu
den Akten legen können.
Woher
das Geld stammte? Er hatte da seine Vorstellungen. Es gab nicht wenige
arbeitslose junge Männer oder eben auch Süchtige, die von einer russischen
Mafiabande Geld bekam um es hier in Deutschland zu waschen. In der Regel viel
weniger, gerade genug dafür Autos von privat zu kaufen und anschließend nach Russland
zu überführen. Sie waren im ganzen Stadtgebiet präsent mit ihren kleinen, am PC
selbst gefertigten billigen Visitenkarten, die sie allen Fahrzeugen meist in
die Fenster der Fahrerseite steckten. Gut, nicht alle bekamen Geld von der
Mafia, aber viele.
Damit
zu tun hatten andere Kollegen. Auch kein leichter oder guter Job. Eher frustrierend,
da kaum mal von Erfolg gekrönt. Da hatten es die vom Rauschgift sogar besser.
Auch
am nächsten Tag tauchte Philipp Knurr nicht auf. Martin Hegels ging
ausnahmsweise mal wieder in die Frühstücksrunde in der Kantine und genoss es,
wie das Gespräch zwischen allen hin und her schwappte, ohne dass einer alles an
sich zog. Sorgen über den Kollegen Philipp machte sich keiner von ihnen.
Wahrscheinlich krank, wurde nur kurz vermutet. Kein Thema also.
Martin
erzählte auch nicht, dass der Kollege bereits gestern nicht wieder aufgetaucht
war nach dem Einsatz in der Wohnung. Er erzählte auch sonst nichts. Saß einfach
nur dabei und lauschte zufrieden den anderen. Im Büro zurück dachte er, dass
kein Mensch auf die Idee käme, so einem Fixer so viel Geld an zu vertrauen, was
sich ja auch als richtig herausgestellte hatte, da der sich sofort mit Stoff
eingedeckt und so ins Jenseits befördert hatte. Andererseits mochten die Mafiosos
genau dies gedacht haben, dass niemand auf solche eine Idee kommen würde und
hatten gerade deshalb den Knaben für ihr Geschäft nutzen wollen, nur dass sie
sich bei ihm dann wohl doch reichlich verschätzt hatten. Ansonsten ging der Tag
ihm flott wie lange nicht von der Hand bis dann der Anruf kam.
Philipp
Knurr war auf der IC-Strecke kurz vor der Stadt auf den Schienen gefunden
worden. Gefesselt und so vom Zug überfahren, der dabei aber nicht weiter zu
Schaden kam. Nur der Lokführer musste wegen Schock ins Krankenhaus.
„Das
ging ja schnell“, dachte Martin Hegels. „Wahrscheinlich ist die Wohnung
beobachtet worden und der Depp ist ihnen mit dem Koffer in die Falle gelaufen.“
Auf
dem Revier entstand große Aufregung. Keiner konnte sich dieses Ende von Philipp
Knurr erklären. Wer hatte den gefesselt und auf die Schienen gelegt und vor
allem warum?
Eine
Sondereinheit wurde gebildet, schließlich handelte es sich um die Ermordung
eines Kollegen, das LKA schickte Leute, die Presse stürzte sich auf den Fall
und jeden von ihnen, in der Hoffnung etwas mehr zu erfahren, sogar überregional
und in der Bild-Zeitung kam Philipp Knurr zu postumen Ruhm.
„Hoffentlich
meine letzte Soko“, dachte Martin Hegels und leitete den Trupp so gut es eben
ging. Vom Koffer sagte er kein Wort, zu niemand. Ermittelt wurde vor allem in
der Rauschgift-Szene, in deren Kreisen so eine Tötungsart durchaus als
Bestrafung schon vorgekommen war. Er hatte vor Philipp Knurr bereits 5 junge
Leute in ähnlicher Situation auf den Schienen betrachten müssen.
Der
Erfolg ihrer Unternehmungen war ein auffälliger Rückgang der Drogenkriminalitätsdelikte,
die Szene schien sich fast ganz aus der Stadt zu verziehen.
Es
gab immer wieder Tatverdächtige, es gab auch Festnahmen von bereits länger
beobachteten Verdächtigen und in der Folge davon auch Verurteilungen. Aber
keine Aufklärung im Fall Philipp Knurr. Martin Hegels verwunderte das kein bisschen und er trieb die Leute unbeirrt davon weiter an, hatte nicht einmal ein
schlechtes Gewissen dabei, gaben ihm die Randerfolge doch trotzdem ein gewisses
Gefühl der Befriedigung.
Mit
der Zeit erlahmte das Ermittlungsinteresse trotzdem und die Zeit seiner Pensionierung
rückte immer näher. Offiziell würde er mit einem Misserfolg und einer etwas
niedrigeren Aufklärungsquote seinen Berufsweg abschließen, und das bei dem Mord
an einem Kollegen und möglichen Nachfolger, der durch eine junge Frau ersetzt
worden war, mit der Martin gerne und gut zusammen arbeitete. Sie bedankte sich
sogar öffentlich bei seiner Verabschiedung mit vielen lobenden Worten für seine
Kollegialität und gute Einarbeitung. Ja, die mochte er und sie ihn wohl auch.
Vor allem aber hatte er von ihr viel Respekt zu spüren bekommen, was ihm auf
die letzten Tage mehr als gut tat.
Offiziell,
im Stillen aber wusste er ja, meinte zu wissen, wer den Mord verübt hatte, wenn
auch nicht mit Namen oder konkreten Personen, war sich über das Motiv ebenso sicher
und dachte zugleich, dass der eigentliche Täter er selber gewesen war, er, der
den Koffer gut sichtbar dort abgestellt hatte, ahnungsvoll bezüglich der
hinterhältigen Neugier des Kollegen, der ihn bestimmt sofort nach seinem
Weggang geöffnet und dann an sich genommen hatte und wohl damit fliehen wollte
in ein neues süßes Leben.
Nur
zwei Fragen blieben ihm dennoch:
„Wie
viel Geld war es wohl wirklich gewesen? Eine Millionen, oder gar 10 und mehr
Millionen?“
Und
die ihm viel unangenehmere:
hatte
Philipp Knurr den Koffer gar nicht für sich genommen, sondern den einfach nur ordnungsgemäß
zur Polizeidienststelle bringen wollen und ihn, Martin Hegels, womöglich
anschwärzen, der nichts über den Fund gesagt hatte?
Manchmal,
wenn er als Pensionär alleine auf seiner Terrasse im Liegestuhl lag dachte er
auch darüber nach, dass er ja eigentlich, wenn auch nur für Sekunden, einmal in
seinem Leben Millionär gewesen war. Den Kollegen Philipp Knurr bedauerte nicht
und nie, dafür waren zu viele beklagenswerte Tote in seinem Leben eingetreten und
wieder verschwunden gewesen.
Und
er war klammheimlich ein wenig stolz darauf, dass ihm zum Schluss auch noch irgendwie
der perfekte Mord gelungen war, was doch auch viel über seine Qualität als
Kommissar für Tötungsdelikte aussagte.
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