Seit
ein paar Wochen steht er nun schon jeden Tag auf dem Kirchplatz, wenn wir aus
dem Gottesdienst heraus kommen. Er steht da mit seinem hochgereckten und selbst
bemalten Pappschild. Sieht uns ernst und stumm an. Sagt nie ein Wort, auch
wenn, was selten vorkommt, ihn einer darauf anspricht. Steht da, sieht uns in
die Augen, hat selber klare blaue Augen und einen starken Blick, den man kaum
aushalten kann und so sehen wir meistens nicht mit, wenden den Blick ab, fühlen
unsere ganze Schwäche in diesem Augenblick. Sind doch nur Augen und ein
Pappschild mit den Worten: „Rettet die Dachböden!“
Als
Pastor der Gemeinde musste ich ihn ansprechen. Natürlich bedrängten mich
Mitglieder aus dem Kirchenvorstand, etwas zu tun. Politische Propaganda habe
vor der Kirche nichts zu suchen, sei doch verboten und wir, die Gemeinde,
hätten hier schließlich Hausrecht, eigentlich sei das doch Hausfriedensbruch
und so weiter.
Sie
wissen ja, wie wenig christlich gerade engagierte ehrenamtliche Christen
bisweilen sind.
Wir
Pastoren haben auch nicht mehr die Zeit wie früher, uns um alles zu kümmern.
Drei Gemeinden habe ich zurzeit zu betreuen. Es fehlt das Geld. Das Land ist
zwar reich geworden in den Jahrzehnten nach dem letzten großen Krieg aber ärmer
an gläubigen Christen und Kirchensteuern.
Diese
Gemeinde hier lag mir besonders am Herzen. In den Straßen und Häusern des
Viertels bin ich geboren worden und herangewachsen, bis ich wegen des Studiums
in eine andere Stadt ziehen musste.
Es
ist ein gutes Stadtviertel. Alle Häuser sehen frisch und renoviert aus. Die kleinen
Vorgärten der ehemaligen Arbeiter- und Bürgerhäuser funkeln im Frühling von der
Blumenpracht und glänzen im Herbst von den Blättern der Ziersträucher und
Bäume.
Der
Wohlstand hat uns Ruhe und täglichen Frieden hereingebracht. Wer hier wohnt,
hat sein Auskommen, seine zum Gymnasium und Studium strebenden Kinder, verfügt
in der Freizeit über einen gut ausgeklügelten Menüplan für allerlei Aktivitäten
wie Theaterbesuch, Joggen, Fitnessgeräte im Center an der Hauptstraße und
Restaurants mit Speisekarten aus allen Himmelsrichtungen dieses Planeten.
Aber
natürlich gibt es auch hier mal Not oder Wirrnis, Menschen, die durch das
Raster fallen. Für die haben wir eine Teestube mit „Tafel“ eingerichtet, für
die Supermärkte, Bäcker und Schlachter ihre abgelaufene oder am Tag nicht
frisch verkaufte Waren spenden und natürlich haben wir auch eine Kleiderkammer
zu der auch ein kleines Möbelkaufhaus gehört, auch alles mit Waren aus Spenden.
Das macht nicht nur sehr viel Arbeit, sondern auch viel Freude, auf jeden Fall
ist der ganze Kirchenvorstand damit gut beschäftigt. Besonders stolz sind wir
auch auf unsere kleine Hospiz-Gruppe, die Sterbende und ihre Angehörigen
betreut, schließlich müssen wir alle trotz unseres Glückes hier ja einmal vor
das Angesicht des Herrn treten. Und wem die Religion fehlt, dem fällt das nicht
gerade leicht.
Was
also, bitte, kann da ein Typ groß stören mit einem Pappschild?
Und
worüber soll ich mit ihm reden? Über Dachböden?
Neulich
noch musste ich eine verwirrte Frau in die Psychiatrie bringen. Mitten im
Gottesdienst war die aufgesprungen und hatte geschrien: „Ihr seid alle Mörder,
Mörder, Mörder!“
Sie
war nicht zu beruhigen und so brachten zwei Männer des Kirchenvorstandes sie zu
mir in die Pfarrwohnung, wo meine Haushälterin sich um sie kümmerte.
Nach
dem Gottesdienst fand ich die beiden in der Küche, die Frau kräftig am weinen
und meine Haushälterin mehr als ratlos daneben.
„Reden
Sie doch mal mit ihr. Ich schaffe es nicht, sie zu beruhigen.“
Ich
nickte, ließ sie weiter an unserem Mittagsessen werkeln und setzte mich zu der
Frau. Als ich ihre Hand nehmen wollte, zog sie die schnell und heftig zurück,
schüttelte den Kopf.
„Nicht!
Sie haben ja keine Ahnung. Sie sind blind, wissen Sie! Blind! Taub! Das sind
sie, sonst würden Sie bei all den Mördern hier nicht so fröhlich grinsen.“
Ich
dachte nicht, dass ich grinste, meinte eher begütigend zu lächeln. Aber
wahrscheinlich hatte die Frau unter ihren Tränen mich gar nicht richtig
gesehen.
Sie
ließ mich nichts fragen. Sprach redete, schrie, bis wir sie unterstützt von Rettungssanitätern
aus der Wohnung in den Krankenwagen bringen konnten.
Was
sie redete? Nun, dass alle Völker im Wohlstand zu Mördern würden, sich selbst
und ihren Kindern das Leben und die Zeit töten würden mit Fernsehen, Drogen,
Alkohol, Computerspielen und blödsinnigen Massen-Events in riesigen Sportarenen,
ansonsten aber durch Hektik, Druck und Erpressung gute Arbeit töten, jede
Regung von Mitmenschlichkeit und sinnvoller Beschäftigung. Das ging bei ihr
alles ineinander, übereinander, durcheinander. Von den Begriffen her, die sie
gebrauchte, musste sie sehr gut gebildet und auf dem Laufenden gewesen sein. So
kam es mir jedenfalls vor. Aber total durch geknallt, wenn ich als Pastor das
auch nicht so nennen sollte. Natürlich kam auch die Umweltverschmutzung dran,
die ausgerotteten Tiere, die Erderwärmung mit den schmelzenden Gletschern und
dem steigenden Meerwasser. Nicht zu vergessen die hungernden Menschen überall
auf den Kontinenten, denen die Lebensgrundlagen ermordet worden wären. Ja sie
nannte alles Mord, morden, Mörder. Solche Leute gibt es halt. Denen kann auch
die Bibel und ein Pastor nicht mehr helfen. Aber wir haben eine gute Psychiatrie
am Stadtrand, in einer ehemaligen Kaufmannsvilla, mit sehr gutem Ruf auch in
der Umgebung. Da brachte ich sie hin mit dem Rettungswagen, wartete noch bis
die Spritze der Sanitäter ihre Wirkung tat und verabschiedete mich von ihr. Ich
wusste sie von da in guten Händen.
Und
nun dieser Mann mit dem Schild. Ein älterer Herr eher, vielleicht 60 oder 70,
auf jeden Fall grau- und langhaarig, gekleidet in Jeansjacke und Jeanshose wie wohl
schon zu seinen Jugendzeiten. Fehlte nur die Gitarre auf dem Rücken.
„Ich
soll mit Ihnen reden.“
Der
Mann sah mich, so zumindest mein Eindruck, neugierig an.
Und
sprach, sehr zu meinem Erstaunen, sofort.
„Warum?
Wer sagt Ihnen das?“
„Der
Kirchenvorstand!“
„Nicht
Ihr Herr, der Gott da oben? Ich dachte, dessen befehle müssten Sie nur
befolgen?“
Man
wird verstehen, dass ich keine rechte Lust auf so eine plumpe Gottesdiskussion
hatte.
„Wegen
Ihrem Schild. Was meinen Sie damit überhaupt?“
„Haben
Sie ausnahmsweise ein wenig Zeit. Dann erkläre ich es Ihnen. Aber nicht hier.
Mir ist kalt und ich kann nicht mehr lange stehen.“
Ich
ging auf seine Selbsteinladung gerne ein, denn es war wirklich schon kühl in
der Jahreszeit und so gingen wir zusammen zum Pfarrhaus. Er schwieg wieder und
so hielt ich auch meinen Mund.
Er
war mit einem Kaffee einverstanden, lehnte aber Kekse oder etwas anderes dazu
ab.
Meine
Haushälterin schüttelte leicht und missbilligend den Kopf als wir eintraten und
verzog sich.
Er
schwieg erstmal weiter, trank einen Schluck Kaffee und sah mich mit seinen Augen
an. Interessante Augen, die hatte er wirklich. Er wirkte weder bedrückt noch
hysterisch wie die Mörder-Frau neulich, eher klar und mit sich selbst im Reinen.
Wie
immer es auch geschah, ich wurde plötzlich und ziemlich unsicher in seiner
Gegenwart. Fühlte mich unbehaglich. Bekam auch so etwas wie ein schlechtes
Gewissen, ohne zu wissen warum.
Als
er endlich zu sprechen anfing, war ich erleichtert.
„Haben
Sie die Dachböden der Häuser hier mal gesehen. Jetzt, meine ich. Was sie aus
denen gemacht haben? Nein? Ich sage es ihnen: Kinderfallen. Da hocken ihre
Kinder jetzt bis spät in der Nacht an ihren Computern und nichts dort, gar
nichts erinnert noch an die alten Dachböden, an diese Märchenräume,
Räuberhöhlen und Fundorte, die sie einst waren.“
Berufsmäßig
gut durchtrainiert nickte ich zu seinen Worten, schlürfte Schlückchen nach
Schlückchen den Kaffee und hörte einfach nur zu.
„Von
den verschwundenen Trümmergrundstücken will ich ja gar nicht reden. Unsere
Abenteuerinseln und Entdeckungsräume. Ja, wir hatten dort eine gute Kindheit.
Die Kinder heute können noch von Vorgarten zu Vorgarten hüpfen. Aber was gibt
es da schon zu entdecken? Oder den Gärten dahinter? Erfüllte Konsumwünsche, ja
die haben sie dort. Trampolin, Basketballkorb, kleine Fußballtore, eigenen Sandkästen
um dort ihre Langeweile zu verbuddeln. Aber nichts mehr zu entdecken, keine
echte Herausforderung und schon gar nichts für Träume und Phantasien. „
Er
hatte seinen Kaffee ausgetrunken und ich schenkte ihm nach. Ich fragte mich
woher diese Wohlstandskritik kommen mochte in diesen Tagen, diese Nostalgie,
als wenn früher alles besser gewesen wäre. Ja, die Trümmergrundstücke hatte ich
auch noch erlebt. Die letzten Paar. Aber wir waren dorthin geflüchtet, hatten
ja keine eigenen Kinderzimmer in denen wir uns aufhalten konnten, nur
Schlafstuben. Heute mussten Kinder nicht nach draußen flüchten, hatten ihr
eigenes reich. Was sollte daran verkehrt sein. Zuviel Computer ja! Auch das die
ihren eigenen Fernseher dort hatten und nicht mal mehr gemeinsam mit den Eltern
fern sahen, ja! Das ist nicht gut. Aber eine Tragödie?
Die
Kinder entwickelten sich doch gut hier, kamen fast alle auf die Uni, wurden Ärzte,
Lehrer, Ingenieure. Was also sollte schlecht gelaufen sein mit denen?
Als
hätte er meine Gedanken erraten, fuhr er fort:
„Auf
der Strecke bleibt das Soziale, die Phantasie, der Mut zur Kreativität, zu außergewöhnlichen
Lösungen, verstehen sie, und eine Kindheitswelt, eine echte Kinderwelt, nicht
das was sie jetzt haben, in dem sie wie kleine Erwachsene handeln, als Babys
schon Knöpfe drücken und auf Computern sich bewegen, statt auf der Erde. Wissen
Sie noch, was Sie auf den Dachböden erlebt haben, mit wem sie dort waren und
wie oft?“
Ich
schüttelte den Kopf. Wollte mich gar nicht daran erinnern, an den Staub, den
Geruch und die Unordnung dort. Ich war immer froh gewesen, nicht dort hinauf zu
müssen.
„Ich
jedenfalls kann es und weiß noch, was ich dem Dachboden meiner Großeltern zu
verdanken habe. Dort habe ich meine ersten Reisen mit Sigesmund Rüstig in die
Südsee angetreten, ein altes, leicht riechendes Buch, wie alle die ich dort
damals fand in den Kisten. Mit dem tapferen Nettelbeck habe ich königsberg
verteidigt und geheult beim „Kampf um Rom“. Ich bin mit den Vifelanten gegen
Viehdiebe geritten und habe in den Mädchenbüchern meiner Mutter das „Rosenresli“
bezaubern gefunden und hätte sie und ihre Mutter gerne aus ihrer Armut befreit.
Ja, es waren nicht alles sogenannte gute Bücher, manche stammten aus der
Nazizeit und waren deshalb dort oben gelandet. Es waren weder Goerthe, noch
Schiller, noch Heine dabei und auch nicht die „Buddenbrooks“
von Thomas Mann. Aber Bücher waren es trotzdem, mit Weiten und Bildern, wie ich
sie bis dahin nicht erlebt hatte. Und dank ihnen bin ich zum Lesen gekommen, zu
meiner Phantasie vorgestoßen und habe mich zu träumen getraut, ganz andere und
wilde Geschichten als vorher. Nicht nur das, der Dachboden war mein erstes
Jagdrevier, meine Schatzinsel, das erste reich, dass ich mir selbst erobern
konnte. Und später haben wir Freunde dort gehockt, gequatscht, geträumt, uns
Höhlen gebaut dort, wenn der Sommer vorbei war und das Schmuddelwetter uns in
die Häuser sperrte.“
Er
machte eine Pause und ich sah ihn weiter ruhig an. Irgendetwas kam mir in die
Erinnerung, noch sehr verschwommen aber doch in der Art, wie er sie hier vor
mir ausbreitete. Es war der Keller. Dort hatte ich meines Vaters Krimis in
Kartons gefunden und sogar Comics hatte er dort gelagert. War ihm sichtlich
peinlich gewesen, als ich eines Tages damit nach oben kam. Ich habe sie nicht
im Keller und auch nicht auf dem Boden gelesen sondern auf dem Klo. Denn da war
ich am ungestörtesten Dran in meiner Kindheit. Und ich hatte seine Bibel
gefunden und die nahm ich sogar mit unter das Bett, um sie abends beim Licht
einer Taschenlampe durch zu lesen. Sie kam mir vor wie ein einziger großer
Abenteuerroman mit vielen tollen aber auch zum Teil verrückten gestalten. Als
ich seine Karl May-Bücher fand musste ich immer wieder an die Geschichten in
der Bibel denken, weil ich dessen Geschichten als sehr ähnlich empfand.
Vielleicht bin ich so zum Pastor geworden und der Bibel als regelmäßige Lektüre
treu geworden und geblieben bis zum heutigen Tag.
Ich
erzählte ihm davon und meinen Bruchstücken an Erinnerung, die er in mir
ausgelöst hatte.
Das
erfreute ihn sichtlich.
„Ja,
genau das meine ich. Ob Dachboden, Keller, Kabuff, ist doch egal. Heute fehlen
diese versteckten schätze, alles weg auf dem Sperrmüll oder den Flohmärkten
verscherbelt. Ja und die Keller sind Partykeller geworden oder Hobbyraum. Wie
sollen unsere Kinder so Reisen entdecken und sich selber?“
„Das
machen sie heute am Computer.“
„Aber
wie denn, ohne Geruch, ohne Kratzer, ohne das Holz spüren, die Spinnenfäden,
ohne das schummrige Licht mit den Augen zu durchsuchen. Geht doch alles am Computer
nicht. Der mag ihren Grips herausfordern, aber mehr geht da nicht. Bestimmt
nicht. Es fehlt alles was das Leben ausmacht, riechen, hören, schmecken ohne dass
wir es einstellen, einfach so, ohne unser Zutun, das Leben wie es uns umgibt,
fordert, streichelt und auch zwickt. Unvorhergesehen, einfach so. Erleben!
Wissen Sie! Erleben! Das fehlt ihnen. Und darum stehe ich mit dem Schild da.
Darum versuche ich die letzten Dachböden für sie zu retten. Darum sitze ich
hier mit Ihnen. Wir brauchen wieder echte Erlebniswelten und nicht pädagogisch verdröselten
Naturerlebnispfade oder sogenannte Abenteuerspielplätze, die die Kinder in 5 Minuten
durchschaut haben, um sich dann zu entscheiden, was ihre Bedürfnisbefriedigung
noch am ehesten erreicht.“
Zu
meiner eigenen Überraschung bot ich ihm an, mit mir auf den Dachboden des
Pfarrheims zu kommen, auf dem ich bestimmt Jahre nicht mehr war.
Wir
verbrachten zwei Stunden dort zusammen, durchstöberten Kisten, fanden
tatsächlich alte Bücher, die die Gemeindebücherei wohl aussortiert hatte und
allerlei Krimskrams.
Zum
Schluss bat ich ihn seine Gedanken für das Gemeindeblättchen zu formulieren.
Bereits nach einer Woche hatte ich seinen Text. Es gab tatsächlich eine heftige
Debatte im Kirchenvorstand über diesen „Schwachsinn“, wie einige erbost
meinten, und ich bin seitdem mit dem Mann befreundet, überhaupt habe ich
angefangen mich für andere Dinge zu interessieren und zusammen haben wir
manchen Dachboden durchstöbert und vor dem Umbau gerettet. Als nächstes planen
wir ein Museum für Dachböden. Die ersten Spenden haben wir schon.
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