Dienstag, 2. April 2013

Frederike Lotze



Nicht an sie erinnert die, vom Blitz gespaltene, von den Jahrzehnten zerzauste alte Linde an der Groner Landstraße in der alten Universitätsstadt Göttingen, eher bekannt durch die Brüder Grimm oder Heines spöttische Worte.

Erinnern soll die Linde an das Leinebergische Landgericht, das hier seine Delinquenten vom Leben zum Tode befördern ließ.

Ungerührt von diesem grausigen Ort braust heute hier der Verkehr zur Autobahnauffahrt oder kommt von dort und strebt abgasend an der Linde vorbei, hinein in das vom Fachwerk gesprenkelte Leinestädtchen.

Umrahmt von Friedhof und Krankenhaus, einigen schmalen Häusern, teilt sich dem hier verweilenden Bummelanten kein Schrei mehr mit, kein Schluchzen, nichts von dem lähmenden Entsetzen, das hier so manchen befiel.

Achtzehnhundertneunundfünfzig, am 20. Januar, starb hier Frederike Lotze. Henkersknechte haben sie an diesem Ort festgeschnallt - der Scharfrichter trennte, mit einem einzigen Schlag des Schwertes, ihren schönen und willensstarken Kopf ab.

Zehntausend Menschen standen dabei, sahen Frederike sterben. Alle hörten sie die Frage:"Bekennst Du Dich schuldig, Frederike Lotze?"

Still war es, unheimlich still. Leise war Frederikes Antwort. Im Angesicht des vor ihr sitzenden Richters, der Henkersknechte, des Scharfrichters mit seinem Schwert:

"Ja, ich bekenne mich schuldig!"

Frederike stammte aus einem kleinen Dorf, ungefähr zwanzig Kilometer von ihrer Hinrichtungsstätte entfernt.

Hübsch ist es dort und wir können uns vorstellen, wie sie zwischen den sanften Hügeln mit ihren drei- bis fünfhundert Metern Höhe, dem dichten Bramwald und den klaren, sprudelnden Quellen aufgewachsen ist als eines von mehreren Kindern, in Ohr und Herz die Namen der so nahen und für sie doch unerreichbaren Städte.

Was tun, wenn noch kein Freier in Aussicht und alle satt zu essen haben wollten?

Frederike ging über die Hügel und kam dorthin, wo in einem Tal „Fulda und Werra sich küssen...“.

Das Haus in Hannoversch Münden, in dem sie sich verdingte, steht heute noch. Eine Bäckerei war damals dort, wo heute Süßwaren in der Langen Straße 28 verkauft werden.

Der Hausherr war Junggeselle und im sogenannten "besten" Mannesalter.

Wir wissen nicht, ob es ihm schwergefallen ist, die arme Dienstmagd aus der einfacher beschaffenen Welt auch des Nachts zu besonderen Diensten anzuregen.

"Eine Geschichte, schmutzig und alt" und wie Leine, Werra und Fulda "so kalt" be­gann.

Sie liebte ihn von Herzen - er nur des Nachts ihre Wärme; sie schmiedete Pläne - und auch er schmiedete, nur waren es nicht dieselben.

Sie glaubte an die Reinheit der Quellen, fand, was schön sei, sei auch gut.

Ringsumher erzählte man sich viele Märchen, warum nicht eines Tages auch jenes von der Dienstmagd und dem Bäckermeister?

Was sind Worte? Braucht man sie nicht auch, um kleine Brötchen teurer zu ver­kaufen? Und was konnte ein armes Mädchen aus dem elenden Dankelshausen schließlich geben, wenn andere mit ihrem Geld einen sorgenfreien Lebensabend sicherer in Aussicht stellten?

Wir wissen nicht, was dem nicht immer ganz so braven Bäckermeister durch den Kopf ging, wenn er dem Mädchen, auf dem Gipfel seiner Lust die Ehe, ja ewige Treue versprach.

Und wer weiß schon, wie sie mit ihm sprachen, die Freunde und „ach so gerne“ seine Schwäger in spe:

"Machen wir doch alle so. Ist ja nur 'ne Dienstmagd. Also hat sie zu dienen!"

Meinten sie nicht auch, er solle sich wegen so einer „Lappalie nicht ins Hemd machen“?!

Sicher ist: Er brach den Schwur und beschloss, eine andere zur Frau zu nehmen.

Frederike warf sich nun nicht etwa tief gekränkt und verzweifelt in die kalten Fluten, die das Städtchen ja genug umflossen und bereits viele Folgen solcher Geschichten mit sich gerissen und an die Ufer gespült hatten. Erwarteten dies nicht die Herrschaften solcher „Geschichten“ heimlich und ohne schlechtes Gewissen, wofür ja die Armen da waren und ansonsten die Beichte beim Pastor.

Hatten es nicht viele deshalb auch vorgezogen, ihr Kind dem Wasser zu übergeben, in der Hoffnung danach weiter ohne Probleme zu dienstboten, wenn auch mit mehr Abstand zu den Herren?

Sie nicht! Sie floh auch nicht vor Scham zurück in das liebliche Tal zwischen den Hügeln, ging nicht, blieb, schluckte, lächelte, servierte, putzte.

Sie blieb ruhig und im Haus und "am Morgen, als er Kaffee trank mit Schmand, da ward auf einmal ihm ganz blümerant".

Frederike verhinderte so, dass er den Schwur brechen konnte und letztlich doch zu seinem Wort stehen musste, wenn auch ganz anders als von ihr und ihm auf unterschiedlichste Art geplant.

Und mit solchen Reaktionen rechnen die, die so gerne treten, verführen, ausnutzen und flüchten, wo nur Standhalten die richtige Handlung wäre, auch heute noch nicht gern.

Rächend tat darauf die Männergesellschaft, was sie für rechtens hielt. Frederike kam vor Gericht und im Göttinger Gefängnis wartete sie auf ihren Prozess.

Dies alles ereignete sich im kalten Dezember achtzehnhundertachtundfünfzig und so wird sie übel gefroren haben.

Über mitleidige Hände oder verständnisvolle Worte ist uns nichts bekannt.

Auch nach dem Prozess musste sie noch im Gefängnis bleiben, Wochen auf ihre Hinrichtung warten.

Das Überraschende für alle aber war: Sie stand zu ihrer Tat, leugnete nicht, stritt nichts ab, akzeptierte klaglos das fürchterliche Urteil.

Und wie einfach für die Richter des bei Mord zuständigen Göttinger Obergerichts: sie mussten "auf Todesstrafe erkennen".

Am 20. Januar begann Frederikes letzter Tag. Bereits um 9 Uhr führte man sie zur Linde.

Die königliche Regierung hatte alle Dienstboten der umliegenden Kreise ebenfalls zur Hinrichtungsstätte befohlen - zur Abschreckung versteht sich.

Hätte Frederike gerne alle Dienstherren zwangsverpflichtet, sich ebenfalls das Ganze anzuschauen? Oder hätte sie lieber den sich langsam verfärbenden, vergeblich zuckenden Bäcker allen Dienstherren und deren Söhnen vorgeführt? Zur Ab­schreckung?

Natürlich waren es Männer, die Frederike zur Linde führten: der Scharfrichter Schwarz aus Hannover, der das Urteil verkündende Richter, der Trostworte murmelnde Geistliche, immer noch empört über ihre fehlende Reue, ihr, wie er später notierte „hochmütiges Gebaren im Angesicht des Herrn“.

Mit mehreren Beisitzern saßen die Männer zur Verlesung des Urteils an einem großen Tisch unter der Linde.

Kalt muss es gewesen sein und vielleicht starrte Frederike auf die Nebel, die der Richter beim Verlesen ausstieß. Vielleicht hat sie sehr gefroren, die nackten Füße kaum noch gespürt und gehofft, dass bald alles vorbei sein würde.

Hat sie in diesen Augenblicken bereut? Haben sich das auch die zehntausend Zuschauer gefragt?

"Ja, ich bekenne mich schuldig!" Klar und deutlich ihre Worte, leise zwar aber bestimmt und klar auch ihre traurigen Augen mit denen sie sich die Männer am Tisch ansah.

Sie wirkte nicht traurig und auch nicht zornig. Sterben war normal in diesen Zeiten für Menschen, die aus den kleinen Dörfern am Rande des Eichsfeldes kamen. Und wer lebte, hatte es ja auch nicht immer besser.

Und dann ein Hieb, der jede Wiederkehr unmöglich machte.

Es war eine der letzten Hinrichtungen, jedenfalls in Göttingen unter der Linde, da­mals 1859.

Das alte Richtschwert kam danach zur Ruhe.

Das Schwert stellten die "Göttinger Monatsblätter" vor ein paar Jahren sehr detailliert in ihrer Rubrik "Göttinger Kostbarkeiten" vor.

Es war nicht das letzte verführte Dienstmädchen, nicht die letzte ungewollte Schwangerschaft, nicht das letzte gebrochene Versprechen aus mit Lust erfüllter Liebesnacht.

Nur in Göttingen fehlt mir noch immer ein Denkmal: für Frederike Lotze, die mutige Dienstmagd aus Dankelshausen.

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