Dienstag, 1. Oktober 2013

Eines Leben langer Tod



Und da war da noch das Mädchen, das auf einer hohen Klippe stand und laut rief:
„Ich habe keinen Bock darauf ein Leben lang zu sterben!“
Und so sprang sie, wie sie meinte in den schnelleren Tod. Aber die Strömung trug sie zurück und die tanzenden Wellen warfen sie auf den warmen Strand.
Da marschierte sie los bis sie zu einer hohen Eisenbahnbrücke kam, kletterte auf das Geländer und rief wieder:
„Ich habe keinen Bock darauf ein Leben lang zu sterben!“
Und so sprang sie, erneut in dem Glauben, gleich alles hinter sich zu haben. Aber in diesem Moment fuhr gerade ein Waggon mit Matratzen unter der Brücke hindurch und fing sie mit seiner Ladung weich auf.
Da weinte das Mädchen und ging traurig zurück in seine Stadt, kam dort an eine stark befahrene Kreuzung. Sie sah eine Weile zu, lächelte wieder, ja lachte und rief begeistert:
„Ich habe keinen Bock darauf ein Leben lang zu sterben!“
Und so sprang sie mitten zwischen die Wagen und erwartete den Bumms mit einem Auto, dass ihr das Genick brechen und sie so ins Jenseits befördern würde.
Nun sahen aber alle Fahrer das Mädchen, versuchten sie zu retten und fuhren so alle ineinander, aufeinander, wobei auch mancher von ihnen sein Leben ließ. Das Mädchen aber musste aufstehen und weiter ziehen.
Das wollten aber einige der Fahrer nicht, die hinter ihr herliefen und es festhielten, bis die Polizei kam.
Am Ende des Tages fand sie sich statt im Sarg im Gefängnis wieder und musste dort lange auf ihren Prozess warten, denn es war gerade ein Umsturz und die neuen Machthaber brauchten Zeit, alles wieder zum Laufen zu bringen. Schließlich kam sie aber doch vor Gericht und das Mädchen sagte nur einen Satz bis zum Ende der Verhandlung:
„Ich habe keinen Bock darauf ein Leben lang zu sterben!“
Auf diese Weise hoffte sie, das in ihrem Land noch praktizierte Todesurteil zu erhalten.
Die Richter sprachen es ihr auch zu, wegen der vielen Toten und der darüber und ihrem Spruch sehr aufgebrachten Angehörigen.
Das Mädchen dachte, dauert es halt ein wenig länger aber nicht so lang wie ein ganzes Leben.
Zu ihrem Pech führten die neuen Machthaber die Demokratie ein und schon kam es zu dem ersten Volksbegehren, in dem die Abschaffung der Todesstrafe gefordert wurde. In der Zwischenzeit durften ab sofort keine Todesurteile vollstreckt werden. War also wieder nichts mit dem Sterben für sie.
Weil die Menschen in dem Land das erste Mal Demokratie erlebten und daher erst noch am Üben waren, wurde das Ergebnis der Volksbefragung im neuen Parlament gleich hinterfragt und wurden außerdem neue Gesetze verlangt. Das aber zog sich und zog sich.
Kurz, dem Mädchen wurde die Zeit im Gefängnis sehr lang.
Schließlich hatte das Militär mal wieder keine Geduld mehr mit der Demokratie und putschte sie wieder weg.
Sie beließen es bei der Todesstrafe, weil sie die nun bei den überhand nehmenden Demokraten reichlich brauchten. Auch interessierte sie nicht das Mädchen sondern ihre eigenen erbitterten Gegner sehr viel mehr und so starben die in Scharen und das Mädchen war wieder nicht dran.
Und wieder änderte sich die Lage im Land, zu viele im Volk, ja fast alle, hatten dieses Militär mit seinen Morden satt und wollten ihre Demokratie zurück.
Da befahl das Militär alle verbliebenen Todeskandidaten sofort zu töten.
So kam nun, wenn auch erst nach vielen Jahren, für das Mädchen ihre lang ersehnte Stunde.
Sie ging tapfer zu dem Galgen hoch, sah die Soldaten, die Richter, den Pastor, die Mitdelinquenten und dachte zum ersten Mal:
„Vielleicht hätte ich mir doch besser ein anderes Sterben ausgesucht oder noch besser, ein anderes Leben. In diesem ist mir das Sterben jedenfalls arg lang und sauer geworden.“
Als hätte das jemand ganz oben vernommen, wurde die Hinrichtung abgebrochen, das Militär zurück in die Kasernen verbannt und die Demokratie abermals eingesetzt.
Nicht genug damit, verwirrt sehen wir das Mädchen hinaus in das Leben schleichen, heraus komplementiert aus dem Gefängnis von einer Generalamnestie.
Das Mädchen brauchte danach wirklich sehr lange, bis es einen Weg zum Leben hin für sich fand, denn viel hatte es gelernt über das Sterben, nur über das Leben wusste es immer noch nicht viel.
Und wenn sie heute noch lebt, hat sie wohl das eine oder andere gefunden, vielleicht sogar mit Vergnügen daran und ist wohl noch immer nicht gestorben.

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