Dienstag, 1. Oktober 2013

Sprachlos in der Kunsthalle



Ein Mann steht ruhig vor einem Bild, als ein Bekannter von ihm vorbei kommt. Sie begrüßen sich mit einem Handschlag und der Mann wendet sich wieder dem Bild zu.
„Gefällt ihnen das?“
„Was?“
„Das Bild?“
„Wieso?“
„Weil Sie davor stehen.“
„Ich stehe davor, weil ich es mir ansehe.“
„Ja, klar, und, gefällt es Ihnen?“
„Das ist doch keine Frage.“
„Nein? So gut finden sie es?“
„Nein.“
„Also gefällt es Ihnen doch nicht?“
„Vielleicht. Mal sehen.“
Der Bekannte lässt ihn eine kurze Weile in Ruhe das Bild weiter betrachten, sieht auch selber hin. Schließlich hält er es nicht mehr aus.
„Was sehen Sie? Ich meine, was kann man da erkennen?“
„Das was Sie sehen.“
„Mhh!“
Nach einer weiteren Weile des Betrachtens beginnt der Bekannte wieder zu fragen.
„Was denken Sie, ich meine, während Sie das Bild so intensiv betrachten. Was denken Sie?“
„Nichts.“
„Sie denken nichts, also sagt Ihnen das Bild auch nichts?“
„Doch.“
„Also denken Sie doch.“
„Nein, aber das Bild sagt mir etwas.“
„Mir aber nicht. Was will Ihrer Meinung nach, denn der Künstler uns damit sagen?“
„Würde ich es Ihnen sagen können, hätte der Künstler kein Bild geschaffen sondern einen Text geschrieben. Es sagt mir halt zu.“
„Aber Sie denken nicht dabei? Wie geht das denn? Wo es doch angeblich etwas zu Ihnen sagt?“
„Es ist ein Bild!“
„Ja, das sehe ich auch.“
„Da muss man nicht denken, sondern hinsehen, verstehen Sie, hinein sehen, es auf sich wirken lassen. Dann kommen einem die Bilder von allein.“
„Bilder? Ich sehe nur eins.“
„Weil sie denken und reden statt einfach nur still es sich an zu sehen.“
„Ich sehe aber nichts.“
„Wie auch. Hören Sie auf zu denken dabei.“
„Wie heißt es überhaupt?“
„Steht da auf dem Schildchen.“
„Sprachlos? Was soll das denn?“
Sie sahen sich stumm an, der Betrachter wütend, sein Bekannter empört.
„Der will uns wohl verarschen! Sprachlos! Ist doch jedes Bild, oder nicht?“
„Wir, er meint uns.“
„Wie?“
„Er meint, wir sind sprachlos, das heißt erst er, der Künstler und dann vielleicht auch wir. Ich jedenfalls bin es.“
„Warum?“
„Na, das sieht man doch.“
Der Bekannte will ganz nahe an das Bild heran. Sofort gehen die Alarmsirenen los. Zwei Museumswärter stürzen zu ihnen hin. Der Bekannte dreht sich erschrocken zu ihnen um. Im gleichen Moment schlägt der Bildbetrachter zu. Mehrmals, bis sein Bekannter auf dem Boden liegt. Daraufhin beginnt er ihn überall mit kräftigen Tritten zu malträtieren, bis es den Museumswärtern gelingt, ihn weg zu ziehen.
In der Gerichtsverhandlung, zu der es Dank seinem Bekannten kam, da der ihn wegen schwerer Körperverletzung angezeigt hatte, gab der in den Medien sofort als „Kunstschläger“ titulierte Mann an, das Bild sei der Auslöser gewesen, es habe ihn sprachlos und wütend gemacht, ja, er habe die ganze bittere Wut des Künstlers in sich gespürt und der dumme Bekannte sei Teil dieses Bild geworden und er habe einfach nur noch rot gesehen.
„Das ist eben Kunst,“ sagte er ruhig,“sie kann vieles anrichten, wenn sie gut ist. Und dies Bild erscheint mir mehr als gelungen.“
Er wurde zu einem Jahr auf Bewährung verurteilt und ein Verbot auf fünf Jahre für sämtliche Kunstmuseen der Republik. Es wurde ihm zugute gehalten, dass das Opfer ihn durch seine Fragerei wahrscheinlich gereizt hätte.
Damit war aber das Thema nicht beendet. Die Medien ereiferten sich noch lange über Bild, Tat und die manchmal bedenkenswerten Folgen der Kunst und ob es dann nicht doch keine Kunst sei, eher eine gefährliche, dumme Provokation.
Der Mann nahm den ersten Teil des Urteils mit Gelassenheit, den zweiten Teil aber mit großer Trauer an.
Schon bald darauf verließ er das Land für immer. Aufgrund der hohen Medienresonanz wurde er aber auch im Ausland beim Besuch der Museen erkannt und zum Verlassen aufgefordert. Da sprang der Mann von einer hohen Brücke auf die Schienen, in der Hoffnung, wenn der Sturz nicht ausreichen würde, ihn ein Zug endgültig von diesem Leben befreien würde. Und so geschah es. Er musste noch die Räder spüren, wie sie ihn zerquetschten.
Auf der Beerdigung erschien auch der Schöpfer des Bildes, mit dem alles begonnen hatte. Nicht erschienen ist der Bekannte, das Opfer.
Der Künstler schuf unserem Manne zu Ehren ein grandioses Bild, dass aber bald schon von keinem Museum mehr aufgehängt wurde. Zu viele Betrachter des Bildes sprangen hinterher von hohen Brücken auf die Schienen.
Seitdem vermieden es die Kuratoren und Leiter der Museen Kunst zu präsentieren, die große Reaktionen nach sich zogen. Viele Künstler bedauerten das sehr, vor allem die, die deshalb kein Werk mehr abgenommen bekamen. Sie waren sich sicher auch der Mann hätte dies bedauert, trotz seines folgenschweren Todes.
Hatten sich nicht auch nach dem Erscheinen des „Werther“ damals viele Jugendliche selbst vom Leben zum Tode befördert und trotzdem stehen die Werke seines Schöpfers in jeder Buchhandlung, noch heute.
Was zur nächsten Debatte führte, warum Literatur etwas dürfe und bildende Kunst nicht, welches Naturgesetz den Worten Vorrechte einräume vor den Bildern?
Sprachlos? Vorsicht, oft fängt mit dem Einsetzen der Sprachlosigkeit bisweilen das Schreckliche erst so richtig an. Dafür aber verabschieden sich von uns nun ganz andere Leute in völlig anderen Geschichten.

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