Donnerstag, 7. November 2013

Ilses Barbarossamärchen



Es war da in der Deutschen seit einiger Zeit wieder vereinigtem Lande eine junge Frau, die sehr strebsam war und hübsch aussah. Sie hatte es bis zur Juristin in einer großen Wirtschaftsrechtkanzlei in der Bankenstadt Frankfurt gebracht obwohl ihre Eltern nur arme Eifelbauern waren.
Diese junge Frau lebte aber alleine in einem Penthouse, von dem aus sie über viele Dächer der Stadt gucken konnte, wenn sie es denn gewollt hätte. Sie saß aber lieber vor ihrem Kamin, ließ Holzscheite knistern und las die Romantiker und auch deren Märchen. Das war ihr liebstes Hobby schon seit Kindertagen. Da man in der Kanzlei wohl darüber gelächelt hätte, sprach sie mit niemandem darüber. Ihr Lieblingsautor aber war Heinrich Heine. Und wie es so im Märchen bisweilen geschieht, fand sie sich eines Tages bei einem Betriebsausflug der Kanzlei im Kyffhäuser vor dem steinernen Barbarossa in seiner Höhle wieder. Dort hielt sie Heines „Wintermärchen“ aufgeschlagen in den Händen und las in dem schummrigen Licht seine Verse still vor sich. Sie hatte sich dafür etwas von den Kollegen. alles Männer bis auf die Reno-Gehilfinnen, abgesondert,.
Als diese sich aus der Höhle mit dem Führer der Höhle entfernten, bekam sie es nicht mit und so geschah es, dass sie plötzlich mutter- und kollegenallein in der Höhle saß mit ihrem Buch und las, nicht ohne hin und wieder einen Blick auf den Barbarossa zu werfen. Und als sie zu den Zeilen kam, in denen Heine den alten Kaiser besungen, fing sie laut zu lesen an:

Mit stockendem Atem horchte ich hin,
Wenn die Alte ernster und leiser
Zu sprechen begann und vom Rotbart sprach,
Von unserem heimlichen Kaiser.

Sie hat mir versichert, er sei nicht tot,
Wie da glauben die Gelehrten,
Er hause versteckt in einem Berg
Mit seinen Waffengefährten.

Kyffhäuser ist der Berg genannt,
Und drinnen ist eine Höhle;
Die Ampeln erhellen so geisterhaft
Die hochgewölbten Säle.
Der Kaiser bewohnt den vierten Saal.
Schon seit Jahrhunderten sitzt er
Auf steinernem Stuhl, am steinernen Tisch,
Das Haupt auf den Armen stützt er.

Sein Bart, der bis zur Erde wuchs,
Ist rot wie Feuerflammen,
Zuweilen zwinkert er mit dem Aug',
Zieht manchmal die Braunen zusammen.

Schläft er oder denkt er nach?
Man kann's nicht genau ermitteln;
Doch wenn die rechte Stunde kommt,
Wird er gewaltig sich rütteln.

Die gute Fahne ergreift er dann
Und ruft: »Zu Pferd! zu Pferde!«
Sein reisiges Volk erwacht und springt
Lautrasselnd empor von der Erde.

Ein jeder schwingt sich auf sein Roß,
Das wiehert und stampft mit den Hufen!
Sie reiten hinaus in die klirrende Welt,
Und die Trompeten rufen.

Sie reiten gut, sie schlagen gut,
Sie haben ausgeschlafen.
Der Kaiser hält ein strenges Gericht,
Er will die Mörder bestrafen -

Die Mörder, die gemeuchelt einst
Die teure, wundersame,
Goldlockichte Jungfrau Germania -
»Sonne, du klagende Flamme!«

Wohl mancher, der sich geborgen geglaubt,
Und lachend auf seinem Schloß saß,
Er wird nicht entgehen dem rächenden Strang,
Dem Zorne Barbarossas! ---

Sie hatte die letzte Silbe noch nicht ganz ausgesprochen, da begann sich der Koloss vor ihr zu bewegen und auf zu stehen. Erschrocken und ungläubig sah sie dass, erkannte rasch, dass es sich nicht um ein Versehen ihrer Augen im Schattenspiel handelte und begann zu schreien.
Da drehte sich der Koloss zu ihr um, schrumpfte dabei auf normales Menschenmaß und begann sich von dem Stein zu befreien, bis er fast aussah so wie Du und ich, nur stank er fürchterlich. Kein Wunder nach den vielen Jahrhunderten in dieser Gruft.
„Wie soll ich Dich ansprechen, merkwürdige Maid und wo kamst Du her, dass Du mich befreiet?“
Brav stotterte die junge Frau ihren Namen „Ilse“ und den Namen des Dorfes ihrer Eltern und ihrer Arbeitsstätte Frankfurt.
Barbarossa, denn der war er wieder, der stolze Kaiser, rotbärtig, wenn auch ein wenig zerzaust und silbersträhnig, vor allem aber noch ganz ohne Ross, reichte ihr seine grobe rechte Hand zum Gruß.
Die nahm sie, spürte erstaunt die Wärme darin und fasste sich ein Herz, sah ihm in die Augen unter seinen buschigen und vom Staub verklebten Wimpern.
„Du, ich meine, Sie leben?!“
„Dank Dir Maid, ist der alte Fluch gebrochen. Nun auf, das Land zu retten, die Einheit. Es wird Zeit, dass der Kaiser sorget für Ordnung all hier.“
„Da wäre ich mir nicht so sicher“, rutschte es ihr über ihre dezent geschminkten Lippen, bevor sie noch nach zu denken vermochte, ob man so mit einem Barbarossa reden könnte.
„So, will die Eselin schlauer sein als der Büttel? Sei froh, dass Du mich erwecket hast, sonst müsst ich …“ Zu ihrer Beruhigung sprach er die möglichen Folgen nicht aus.
In den nächsten Minuten gelang es ihr, ihn davon zu überzeugen, keine überstürzten Handlungen vor zu nehmen, auch stände kein Heer ihm hier zur Verfügung, denn das hatte sie offensichtlich nicht mit erweckt. Zumindest hörte sie kein Schnauben von Rössern oder Klirren der Waffen.
Unwillig zwar aber nicht uneinsichtig hörte er ihr zu. Fand zwar, dass sie seltsam spreche, auch ihre Kleidung gefiel ihm nicht so recht, sehr wohl aber ihr Gesicht und ihre Haare, mehr von ihr sah er bei ihrem Kostüm nicht.
Nach einer Weile des Hin- und Herredens gelüstete es Barbarossa endlich den Berg zu verlassen und das Land draußen in Augenschein zu nehmen. Sie gingen zum Ausgang, wo märchentypisch plötzlich die Türe offen stand und sie entließ. Draußen fand sie rasch ihren Wagen und schaffte es nur mit großer Anstrengung Barbarossa dort hinein zu bekommen.
Der sah die Kutsche ohne Pferde missbilligend an und fand es gewaltig unter seiner Würde in so eine merkwürdige Kiste zu steigen. Auf der Fahrt zurück nach Frankfurt blieb Barbarossa still und sah nur verwundert die Landschaft wie in einem Film vorüber fliegen, wobei er Filme ja auch noch nicht kannte und so noch mehr verwundert war über das Geschehen.
Die junge Dame Ilse aber grübelte die ganze Fahrt über, was sie nur mit dem stinkenden Opa anfangen sollte, der ihr so ungewünscht und ungeplant in ihr gut durchorganisiertes Wirtschaftsjuristinnenleben gestolpert war. Sie nahm ihn mit in ihr Penthouse, wo Barbarossa ängstlich und grimmig unter die Dusche ging, da er meinte mit Stadtwasser täte man sich nur vergiften, ob denn nicht ein Fluss unterwegs besser gewesen wäre.
Da sie über keine Kleidung für Männer verfügte, bisher auch noch nie ein Mann in ihrem Heim Platz genommen hatte, fühlte sie sich einerseits sehr unwohl, kleidete ihn andererseits in ihren Morgenmantel, der ihm zu klein war und wusste nicht so recht weiter.
Zwar hatte sie viele Märchen gelesen, sehr viele sogar, wenn nicht fast alle, die in ihrer Landessprache gedruckt erhältlich waren, aber in keinem Märchen ging es so zu wie in diesem, sie völlig überfordernden hier und jetzt.
Barbarossa war einverstanden auf dem Sofa zu schlafen und so konnte sie sich in ihr Schlafgemach begeben, nicht ohne die Tür zwischen sich und ihm ab zu schließen, als wenn die wirklich ein Hindernis hätte darstellen können für seine Kräfte.
Am nächsten Tag blieb sie zu Hause nach dem ein Arzt sie für eine Woche krankgeschrieben hatte und nutzte diese Zeit, ihm die Welt und die Geschichte zu berichten, was sich wie geändert hatte seit seinem Verschwinden und was das für ihn bedeuten könnte.
Zu ihrer Überraschung zeigte sich Barbarossa als sehr lernwillig und schnell im Denken. Offensichtlich hatte ihm der lange Schlaf im Kyffhäuser gut getan. Auch war sie nun sehr froh, dass sie nicht ausversehen einen jungen Prinzen erlöst hatte, denn der wäre ihr wahrscheinlich sofort an die Wäsche gegangen ohne Verständnis dafür, dass sie nur Frauen erotisch fand.
Barbarossa hingegen fand schnell Gefallen an der neuen Welt und konnte schon bald Lesen und Schreiben, ihren Laptop benutzen und surfte begeistert im Internet. Seine Bedürfnisse zeigten sich als sehr bescheiden und mit passender Kleidung, ausgiebigen einfachen Gerichten verbrachte er vergnügt seine Tage und schien schon bald nicht mehr vor zu haben, das Land zu retten.
Ihr gefiel es jemanden zu haben, der sie abends empfing, sie wenig störte und einfach nur da war.
Mit der Zeit war er es der ihr von der Welt erzählte und seinen Gedanken dazu. Vieles gefiel ihm nicht, auch nicht was seine Nachfolger und deren Kollegen so angestellt hatten in der Geschichte. Gandhi gefiel ihm und er trauerte Saladin nach. Mit dem würde er gerne hier sitzen. Er verlangte nie nach einem Schwert, wollte auch nichts mehr wissen über Pistolen, Pershings oder Drohnen. Kriegsgerät war ihm zuwider geworden. Traurig machte ihn auch, wie der Islam durch die Terroristen und Selbstmordattentäter in Verruf geraten war. Er hätte einen anderen Islam kennengelernt, human, tolerant und weise, sehr der Kunst und Literatur zugetan. Der Heinrich Heine gefiel ihm auch und er las ihr sogar „Deutschland ein Wintermärchen“ ganz vor.
So lebten sie munter und zufrieden die Tage dahin und wenn sie sich nicht verliebt haben sollte oder er sich eine altersgemäße Krankheit eingefangen, hätte das so weiter gehen können bis ans Ende ihrer Tage.
Nun begab es sich aber, dass auch im fernen Orient ein alter und weiser Mann nach Jahrhunderten wieder zum Leben erweckt worden war, nicht durch eine junge Frau sondern durch ein Kamel, was aber für den Mann kein Schaden war, da er sich sogleich auf dieses Kamel setzen konnte und zur nächste Oase reiten. Dort geschah ihm wie Barbarossa im fernen Frankfurt.
Die Leute dort nahmen ihn freundlich auf und er musste viel, sehr viel lernen über die Zeit und wie es zu ihr gekommen war. Der Mann hieß Ephraim Azzurri und galt zu seiner ersten Lebenszeit als der Wesir der Wesire, der weiseste unter den Weisen und war so im Gedächtnis seiner Landsleute geblieben als der, der wieder kommen würde, wenn es der Prophet denn erlaube, der Welt die Augen und alle Sinne zu öffnen und den Weg in das irdische Paradies zu weisen.
Da sich das nicht in der abgelegen Oase bewerkstelligen ließ, die Zeit nach Ephraims frisch gewonnenen Erkenntnissen auch nicht gerade begierig auf sein Erscheinen zu sein schien, surfte er ziellos durch das Internet in der Hoffnung irgendwann dort auf eine Lösung für sein weiteres Leben zu stoßen. Dabei fanden sich Barbarossa und er eines schönen Tages, chatteten sehr bald offen und angeregt miteinander und zu Barbarossas großer Freude stellte sich Ephraim als ein entfernter zwar nur aber immerhin Bekannter Saladins heraus.
Ilse verliebte sich zu der Zeit gerade in eine Renogehilfin ihrer Kanzlei, bekam diese Liebe erwidert und traf sich mit ihr in deren Wohnung, da sie sich nicht traute, Barbarossas Existenz preis zu geben.
Barbarossa seinerseits bekam von Ephraim ein Flugticket und Ausweispapiere zugeschickt, alles von Ephraim über seine arabischen Kontakte zu der Zeit problemlos möglich, und so kam es, dass Barbarossa Ilse einen Brief schrieb, sich darin bei Ihr bedankte und sich für immer von ihr verabschiedete.
Er nahm den Flug von Frankfurt über Dubai zu dem Flughafen, auf dem ihn Ephraim Azzurri bereits sehnsüchtig erwartete.
Zusammen fuhren sie mit einem Jeep zu der Oase von Ephraim und diskutierten dort und surften zusammen im Internet, bis zur gleichen Stunde jeweils jeder von ihnen von seinem großen Herrn des Himmels endgültig und für immer von unserer Erden genommen wurde. Das aber geschah so, dass der Präsident der USA eine Drohne auf die Oase schießen ließ, weil ihm seine Geheimdienstleute berichteten von einem Europäer mit zweifelhafter Herkunft und einem eben solch zweifelhaften wie ein Scheich gekleideten Großvatertyp, dem bereits getöteten Bin Laden nicht unähnlich, sich dort konspirativ und sicherlich Terror planend aufhaltend und daher besser zur Vermeidung schlimmerer Geschehnisse zu töten. Der Erfolg schien ihnen recht zu geben denn am Tag nach deren Ableben geschah nirgendwo auf der Welt ein Attentat.
Im Himmel angekommen fragten die als erstes, was denn nun der Sinn ihrer Wiedererweckung gewesen sei, da sie nichts hätten unternehmen können zum Heil der Menschen und ihrer Welt.
Sie erhielten zur Antwort, dass es wohl mehr ein Versehen und ein launiger Einfall gewesen wäre, dieses Experiment auch nicht wiederholt würde, den Menschen sei nämlich nicht zu helfen, so jedenfalls schon gar nicht und so weiter.
Immerhin erhielten zusammen eine Wolke der Barbarossa und der Ephraim. So hatte es denn doch sein Gutes gehabt, ihre Wiederkehr.
Ilse trauerte ein paar Tage, zog danach mit ihrer Renogehilfin zusammen und half erfolgreich den Unternehmen des Landes Steuern gar nicht oder nur sehr wenig zu bezahlen. Heine aber las sie nie wieder. Er war ihr nicht mehr geheuer. Sie stieg auf Krimis um, was ihrer Zeit wohl auch mehr entsprach.
Und so endete ihr Märchen wie die meisten in Liebe, einem erfolgreichen Leben im Reichtum auf Kosten anderer und wer das nicht mag, sollte besser keine Märchen lesen.

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