Der Präsident
war seit drei Monaten kein Präsident mehr. Trotzdem war er noch immer ein
gefragter Gast in den Fernsehanstalten des Landes. So geschah es ihm, dass er eines Tages bei
einem kleinen Sender eintraf und noch eine Stunde warten musste, bis er in die
Sendung sollte.
Der
Präsident, der keiner mehr war aber immer noch und bis zu seinem Tod so genannt
werden sollte, ein bescheidener, fast schüchterner Mann in stets unauffälligem
Anzug und dazu passender, fast darin verschwindender Krawatte, fragte nach einer Möglichkeit in Ruhe Luft
schöpfen zu können, er würde sich gerne ein wenig die Beine vertreten wegen dem
vielen Autofahren.
Dem Mann
konnte geholfen werden, da sich ein kleiner Innenhof in dem Flachbau befand,
mit Kieselsteinweg, blanken Mauern zwar aber dafür freiem Blick zum Himmel und
einer zarten Birke in der Mitte.
Dem
Präsidenten war es recht und zusammen mit seinen zwei Leibwächtern, damals
hießen die noch so und nicht Body-Guards, begab er sich in diesen versprochenen
Innenhof. Die beiden Begleiter blieben in der Türöffnung stehen, auf die Gefahr
hin, jemand könnte auf die Idee kommen und dem Präsidenten zu nahe treten
wollen.
Nun begab es
sich aber, dass kurz zuvor ein junger Kulissenschieber, wie sie hier genannt
wurden, allerdings nur zur Aushilfe, da er ansonsten recht brav, meistens
jedenfalls wenn seine politischen Wallungen ihm dafür Zeit ließen, Soziologie
studierte, sich ausgerechnet diesen Innenhof für eine Zigarettenpause
ausgesucht und auf einem großen Findling neben der Tür Platz genommen hatte,
nichts ahnend vom Präsidenten und seinem Gefolge.
Hätte er es
geahnt, dann hätte er sich gefreut, denn er verehrte den Mann, der im großen
Krieg zur „Bekennenden Kirche“ und so zum Widerstand gehört und sein erstes
Ministeramt im nachfolgenden Frieden aufgegeben hatte, aus Protest gegen die
Wiederbewaffnung. Dass er trotzdem in diesem Land zum Präsidenten gewählt
worden war, galt vielen als Wunder und er stand für eine neue Zeit mit mehr
Demokratie, Frieden und Aufarbeitung der blutigen Geschichte des Landes.
Ja, wenn er
das geahnt hätte, hatte er aber nicht und so erschrak er beim Anblick des
Präsidenten und dessen hinter ihm ihn kritisch beäugenden „Kleiderschränke“
während der Präsident nur kurz zu ihm hinsah, lächelte und zum Gruß mit seinem
Kopf nickte.
Dann begann
der Präsident mit kleinen, ruhigen schritten um die kleine Birke herum zu
gehen, sah bei jeder Umrundung zu dem jungen Mann, nickte auch ein paarmal
aufmunternd und schwieg wie auch alle anderen.
Der Präsident
fragte sich natürlich, was er von dem jungen Mann, der etwas verlegen auf ihn
wirkte, was von einer leichten Rötung des Gesichtes stark unterstützt wurde.
Hatte der es etwa auf ihn abgesehen? Saß er zufällig hier? War der einer dieser
Prominentensammler und ihm lästigen Autogrammjäger, durch die man in irgendwelche
obskuren Alben zwischen Schlagersternchen und Fußballern geriet? Warum sprach
der ihn nicht an? Sollte er selber? Nein, er hatte keine Lust zum Reden, keine
Lust auf den Burschen zu zu gehen. Die letzten Wochen waren anstrengend gewesen
und er hatte wirklich gehofft ein paar Minuten Ruhe zu finden, mit seinen Gedanken
alleine gelassen zu werden.
Der Student
rang derweil mit sich, immer kritischer beäugt von den Gestalten an der Tür.
Ansprechen, gerne, aber wie, ihn was fragen, aber was und wie spricht man einen
Mann an, den man von Ferne verehrt obwohl man politisch doch weit radikaler
dachte als der und frischer und zeitnäher? Es fiel ihm einfach keine Frage ein.
Und die Anrede, musste man eine offizielle Anrede benutzen: „Herr Präsident,
verzeihen sie …“ oder etwa „Herr Ex-Präsident“?
Er konnte
sich auch nicht vorstellen, wie ein junger Teenager dem Mann seine Bewunderung
mit zu teilen. Und wenn der ihn fragt, was er denn so an ihm bewundere. Er wusste,
dass der Präsident bekannt war für leichte Ironie und Sarkasmus und bestimmt
von Schwärmerei egal welcher Art nichts hielt. Jurist war der, sogar für einen
großen Konzern in der Stahlregion aktiv gewesen, galt als nüchtern, genau
überlegend und kritisch, nur mit Bedacht redend.
Nein, das kam
alles nicht in Frage. Und die Zeit lief ihm davon und mit ihr der Präsident.
Der hatte
beschlossen diese Gestalt dort auf dem Stein bis auf weiteres zu ignorieren,
drehte seine runden, sah in den leicht dunstigen, dennoch sanft blauen Himmel
und stellte für sich fest: „Typischer Stadthimmel, wie bei uns zu Hause. Wer
weiß, was sich hier alles in dem grauen Schleier befindet und klein und
heimtückisch in unseren Lungen verschwindet?“
Es war die Zeit,
in der der Wald sauer vom Regen Sorgen bereitete und den Kindern verboten wurde
in den Flüssen zu baden. Hier in diesem Moment im Angesicht des stummen Zeugen,
kam ihm plötzlich zu Bewusstsein, dass es wirklich vorbei, die Politik, die Termine,
die Auseinandersetzungen und Schachereien hinter den Kulissen. Er war frei,
Rentner, konnte anfangen, selbst über seine Zeit zu bestimmen und die Leute,
die er noch zu Gesicht bekommen wollte. Fast dankbar sah er dem jungen Mann in
die Augen, die ihn leicht wehmütig an zu sehen schienen. Ja, hier in diesem
merkwürdigen Innenhof, der ihn ein bisschen an die Höfe für Insassen in
Gefängnissen erinnerte, war er frei geworden, konnte sich die Last seiner Ämter
endlich abstreifen, aufhören sich den Terminen seines Büros zu unterwerfen.
Gleich Morgen würde er damit anfangen und sie anweisen, erst einmal alles ab zu
lehnen. Wer ernsthaft was wollte, meldete sich ja wieder. Er nickte dem
Studenten zu, dankbar, dass der geschwiegen, ihn in Ruhe und so zu der
Erkenntnis verholfen hatte. Wer weiß, vielleicht wäre er sonst weiter in dem
Hamsterrad mit gelaufen. Zumindest länger.
Der Präsident
ging zur Tür, hindurch und die Sicht auf seinen Rücken wurde sofort von den
Leibwächtern versperrt, die sich ihm anschlossen und mit ihm im Gang
verschwanden.
Die
Gelegenheit ist vorbei, der junge Mann sackte resigniert in sich zusammen. Was
mochte der Präsident nur von ihm gehalten haben, stumm wie ein Fisch hatte er
den angeglotzt, unfähig den Mund auf zu machen und zu keinem klaren Gedanken
fähig. Es war mit Sicherheit das erste Mal in seinem Leben, dass ihm sowas
geschehen war. Auch hatte er bisher keinerlei Hemmungen gegenüber sogenannten Berühmtheiten
oder Koryphäen gehabt. So verklemmt, nein, das war ihm noch nie unterlaufen.
Vorsichtig stand er auf und streckte die vom bewegungslosen Sitzen schmerzenden
Beine und stellte durch ein unangenehmes Kribbeln im Hintern fest, dass dieser
wohl auf dem kalten Stein „eingeschlafen“ sein musste.
Der Präsident
und er sind sich nie wieder über den Weg gelaufen, aber keiner von beiden hat
den anderen je vergessen, wenn auch aus anderen Gründen. Bei jeder kleinen
Birke, die irgendwo alleine für sich stand, dachten die beiden Männer stets an
ihre gemeinsame Schweigestunde.
Der Student
studierte fertig, wurde ruhiger, sesshaft, bekam mit seiner Frau drei Kinder
und eines Tages, als der Sohn mit dem Studium begann, da erzählte er das erste Mal
in seinem Leben diese Geschichte, beichtete dem Sohn seine Gefühle und Zweifel
und wie ihm erst viel später klar geworden war, dass er vielleicht das einzig
richtige getan hatte: die Anwesenheit des Mannes genießen und mit ihm zusammen zu
schweigen.
„Stell Dir
vor, so habe ich vielleicht als einer der ganz wenigen Menschen zusammen mit
dem Präsidenten eine Stunde lang geschwiegen. Und trotz allem war es angenehm
und beruhigend und auch ihm schien es gefallen zu haben, denn beim Rausgehen
hat er mich noch einmal angelächelt, so richtig, fast als wäre er mir dankbar
gewesen.“
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