Samstag, 23. März 2013

Der Präsident





Der Präsident war seit drei Monaten kein Präsident mehr. Trotzdem war er noch immer ein gefragter Gast in den Fernsehanstalten des Landes.  So geschah es ihm, dass er eines Tages bei einem kleinen Sender eintraf und noch eine Stunde warten musste, bis er in die Sendung sollte.
Der Präsident, der keiner mehr war aber immer noch und bis zu seinem Tod so genannt werden sollte, ein bescheidener, fast schüchterner Mann in stets unauffälligem Anzug und dazu passender, fast darin verschwindender Krawatte,  fragte nach einer Möglichkeit in Ruhe Luft schöpfen zu können, er würde sich gerne ein wenig die Beine vertreten wegen dem vielen Autofahren.
Dem Mann konnte geholfen werden, da sich ein kleiner Innenhof in dem Flachbau befand, mit Kieselsteinweg, blanken Mauern zwar aber dafür freiem Blick zum Himmel und einer zarten Birke in der Mitte.
Dem Präsidenten war es recht und zusammen mit seinen zwei Leibwächtern, damals hießen die noch so und nicht Body-Guards, begab er sich in diesen versprochenen Innenhof. Die beiden Begleiter blieben in der Türöffnung stehen, auf die Gefahr hin, jemand könnte auf die Idee kommen und dem Präsidenten zu nahe treten wollen.
Nun begab es sich aber, dass kurz zuvor ein junger Kulissenschieber, wie sie hier genannt wurden, allerdings nur zur Aushilfe, da er ansonsten recht brav, meistens jedenfalls wenn seine politischen Wallungen ihm dafür Zeit ließen, Soziologie studierte, sich ausgerechnet diesen Innenhof für eine Zigarettenpause ausgesucht und auf einem großen Findling neben der Tür Platz genommen hatte, nichts ahnend vom Präsidenten und seinem Gefolge.
Hätte er es geahnt, dann hätte er sich gefreut, denn er verehrte den Mann, der im großen Krieg zur „Bekennenden Kirche“ und so zum Widerstand gehört und sein erstes Ministeramt im nachfolgenden Frieden aufgegeben hatte, aus Protest gegen die Wiederbewaffnung. Dass er trotzdem in diesem Land zum Präsidenten gewählt worden war, galt vielen als Wunder und er stand für eine neue Zeit mit mehr Demokratie, Frieden und Aufarbeitung der blutigen Geschichte des Landes.
Ja, wenn er das geahnt hätte, hatte er aber nicht und so erschrak er beim Anblick des Präsidenten und dessen hinter ihm ihn kritisch beäugenden „Kleiderschränke“ während der Präsident nur kurz zu ihm hinsah, lächelte und zum Gruß mit seinem Kopf nickte.
Dann begann der Präsident mit kleinen, ruhigen schritten um die kleine Birke herum zu gehen, sah bei jeder Umrundung zu dem jungen Mann, nickte auch ein paarmal aufmunternd und schwieg wie auch alle anderen.
Der Präsident fragte sich natürlich, was er von dem jungen Mann, der etwas verlegen auf ihn wirkte, was von einer leichten Rötung des Gesichtes stark unterstützt wurde. Hatte der es etwa auf ihn abgesehen? Saß er zufällig hier? War der einer dieser Prominentensammler und ihm lästigen Autogrammjäger, durch die man in irgendwelche obskuren Alben zwischen Schlagersternchen und Fußballern geriet? Warum sprach der ihn nicht an? Sollte er selber? Nein, er hatte keine Lust zum Reden, keine Lust auf den Burschen zu zu gehen. Die letzten Wochen waren anstrengend gewesen und er hatte wirklich gehofft ein paar Minuten Ruhe zu finden, mit seinen Gedanken alleine gelassen zu werden.
Der Student rang derweil mit sich, immer kritischer beäugt von den Gestalten an der Tür. Ansprechen, gerne, aber wie, ihn was fragen, aber was und wie spricht man einen Mann an, den man von Ferne verehrt obwohl man politisch doch weit radikaler dachte als der und frischer und zeitnäher? Es fiel ihm einfach keine Frage ein. Und die Anrede, musste man eine offizielle Anrede benutzen: „Herr Präsident, verzeihen sie …“ oder etwa „Herr Ex-Präsident“?
Er konnte sich auch nicht vorstellen, wie ein junger Teenager dem Mann seine Bewunderung mit zu teilen. Und wenn der ihn fragt, was er denn so an ihm bewundere. Er wusste, dass der Präsident bekannt war für leichte Ironie und Sarkasmus und bestimmt von Schwärmerei egal welcher Art nichts hielt. Jurist war der, sogar für einen großen Konzern in der Stahlregion aktiv gewesen, galt als nüchtern, genau überlegend und kritisch, nur mit Bedacht redend.
Nein, das kam alles nicht in Frage. Und die Zeit lief ihm davon und mit ihr der Präsident.
Der hatte beschlossen diese Gestalt dort auf dem Stein bis auf weiteres zu ignorieren, drehte seine runden, sah in den leicht dunstigen, dennoch sanft blauen Himmel und stellte für sich fest: „Typischer Stadthimmel, wie bei uns zu Hause. Wer weiß, was sich hier alles in dem grauen Schleier befindet und klein und heimtückisch in unseren Lungen verschwindet?“
Es war die Zeit, in der der Wald sauer vom Regen Sorgen bereitete und den Kindern verboten wurde in den Flüssen zu baden. Hier in diesem Moment im Angesicht des stummen Zeugen, kam ihm plötzlich zu Bewusstsein, dass es wirklich vorbei, die Politik, die Termine, die Auseinandersetzungen und Schachereien hinter den Kulissen. Er war frei, Rentner, konnte anfangen, selbst über seine Zeit zu bestimmen und die Leute, die er noch zu Gesicht bekommen wollte. Fast dankbar sah er dem jungen Mann in die Augen, die ihn leicht wehmütig an zu sehen schienen. Ja, hier in diesem merkwürdigen Innenhof, der ihn ein bisschen an die Höfe für Insassen in Gefängnissen erinnerte, war er frei geworden, konnte sich die Last seiner Ämter endlich abstreifen, aufhören sich den Terminen seines Büros zu unterwerfen. Gleich Morgen würde er damit anfangen und sie anweisen, erst einmal alles ab zu lehnen. Wer ernsthaft was wollte, meldete sich ja wieder. Er nickte dem Studenten zu, dankbar, dass der geschwiegen, ihn in Ruhe und so zu der Erkenntnis verholfen hatte. Wer weiß, vielleicht wäre er sonst weiter in dem Hamsterrad mit gelaufen. Zumindest länger.
Der Präsident ging zur Tür, hindurch und die Sicht auf seinen Rücken wurde sofort von den Leibwächtern versperrt, die sich ihm anschlossen und mit ihm im Gang verschwanden.
Die Gelegenheit ist vorbei, der junge Mann sackte resigniert in sich zusammen. Was mochte der Präsident nur von ihm gehalten haben, stumm wie ein Fisch hatte er den angeglotzt, unfähig den Mund auf zu machen und zu keinem klaren Gedanken fähig. Es war mit Sicherheit das erste Mal in seinem Leben, dass ihm sowas geschehen war. Auch hatte er bisher keinerlei Hemmungen gegenüber sogenannten Berühmtheiten oder Koryphäen gehabt. So verklemmt, nein, das war ihm noch nie unterlaufen. Vorsichtig stand er auf und streckte die vom bewegungslosen Sitzen schmerzenden Beine und stellte durch ein unangenehmes Kribbeln im Hintern fest, dass dieser wohl auf dem kalten Stein „eingeschlafen“ sein musste.
Der Präsident und er sind sich nie wieder über den Weg gelaufen, aber keiner von beiden hat den anderen je vergessen, wenn auch aus anderen Gründen. Bei jeder kleinen Birke, die irgendwo alleine für sich stand, dachten die beiden Männer stets an ihre gemeinsame Schweigestunde.
Der Student studierte fertig, wurde ruhiger, sesshaft, bekam mit seiner Frau drei Kinder und eines Tages, als der Sohn mit dem Studium begann, da erzählte er das erste Mal in seinem Leben diese Geschichte, beichtete dem Sohn seine Gefühle und Zweifel und wie ihm erst viel später klar geworden war, dass er vielleicht das einzig richtige getan hatte: die Anwesenheit des Mannes genießen und mit ihm zusammen zu schweigen.
„Stell Dir vor, so habe ich vielleicht als einer der ganz wenigen Menschen zusammen mit dem Präsidenten eine Stunde lang geschwiegen. Und trotz allem war es angenehm und beruhigend und auch ihm schien es gefallen zu haben, denn beim Rausgehen hat er mich noch einmal angelächelt, so richtig, fast als wäre er mir dankbar gewesen.“

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