Mittwoch, 26. Juni 2013

Neue Messer



Sein Fahrrad surrt, während er bedächtig in die Pedale tritt, mit ihm an den neuen, jedes für sich stehenden, Einfamilienhäusern in rot und weiß vorbeifährt bis zu der Abzweigung in die Sackgasse mit den blassrot verklinkerten Doppelhaushälften einer etwas älteren Generation. 
Dort steigt er ab, wie jedes Mal, schiebt die letzten Meter, macht es seit damals, weiß warum und auch wieder nicht, denkt schon lange nicht mehr darüber nach.
Das fünfte Haus lässt ihn stoppen, das Rad zwischen den Stauden für den Frühling zur Garagentür schieben, nimmt den kleinen Drücker aus der Tasche, lässt das Garagentor langsam mittels der Elektronik aufgleiten, schiebt sein Rad hinein, stellt es neben dem Rasenmäher ab. Bleibt einen Moment lang stehen. Sieht zu dem rot-grünen Gartenschlauch, der sich quer über den grauen Garagenboden schlängelt, bückt sich, wickelt ihn über seinem rechten Arm auf und hängt ihn zurück an die Schlauchhalterung neben dem Waschbecken. Bleibt wieder stehen, lauscht, atmet etwas kräftiger und langsamer, genießt den Moment, schließt sogar die Augen dafür, öffnet sie wieder und dreht sich um, zurück zum Tor. 
Er verlässt die Garage mit langsamen Schritten, nutzt wieder die Elektronik für das Schließen und geht zur Haustür. Dort, unter dem kleinen, weiß gestrichenen Holzvordach, sucht er den Schlüssel in seiner Jackentasche, der hier zur Zeit üblichen Jacke eines bekannten Herstellers von Outdoorbekleidung für Camper, Wanderer und Bergsteiger, findet den Schlüssel, steckt ihn ins Schloss, dreht ihn um, wird am Öffnen der Tür aber durch die Frau gehindert, die bereits die Tür aufreißt.
„Warum klingelst Du nicht einfach. Du weißt doch, dass ich zu Hause bin.“
„Warum, ich kann doch selber die Tür öffnen und wollte Dich nicht hochjagen.“
„Wieso hochjagen? Meinst Du ich liege faul auf der Couch, während Du an Deinem Schreibtisch sitzt?“
Er sagt nichts weiter, wartet bis sie ihm eine Lücke zum Vorbeigehen lässt, schließt hinter sich die Tür zu und zieht seine Jacke aus, hängt sie auf den Kleiderbügel neben die Jacke seiner Frau, vom gleichen Hersteller mit dem gleichen Logo am Kragen wie die seine.
„Kannst Du die Teller eindecken und was zu Trinken aus dem Vorratsraum holen!“
Er nickt obwohl sie es gar nicht sehen kann, denn sie ist bereits in der Küche, wendet sich vor der Garderobe zur Vorratskammer, holt eine Flasche Mineralwasser und eine kleine Flasche Vitaminsaft, geht damit zur Küche.
„Vitaminsaft steht hier noch. Mach nicht schon wieder eine auf. Ich hasse abgestandenen Vitaminsaft!“
Er nickt wieder, stellt beide Flaschen ab und bückt sich zu den Schranktüren unterhalb ihrer Arbeitsplatte, wie sie die Fläche stolz nennt.
„Ich brauche neue Messer! Die sind schon wieder alle stumpf!“
„Warum, die hast Du doch erst vor ein paar Wochen gekauft!“
„Trotzdem. Taugen nichts mehr. Alles billig, billig!“
„Warum nimmst Du dann nicht unsere Alten, lässt die schärfen? Nur fünf Häuser weiter wohnt doch Lohmann, der macht das für alle hier.“
„Wir sind nicht alle!“
Er öffnet den Unterschrank, nimmt zwei Teller heraus, schließt die Türen und stellt die Teller zu den Flaschen.
„Hast Du das Garagentor wieder geschlossen?“
„Ja!“
„Neulich hast Du es aber vergessen! Willst Du nicht lieber nochmal nachsehen!“
„Ja, neulich. Heute aber nicht.“
„Oder soll ich eben nachsehen?“
„Nein, mache ich schon.“
Er dreht sich zur Tür herum, geht durch den Flur zurück zur Haustür, öffnet sie, geht hinaus.
„Mach die Tür zu, es zieht, Herrgott!“
Er hört es nicht mehr, nicht genau genug jedenfalls, geht weiter, überprüft das Tor, geht zurück, durch die Haustür, schließt sie, kehrt zurück in die Küche.
„Hast Du die Haustür auch zu gemacht?“
„Ja, habe ich.“
Er tritt neben sie, die dort Tomaten mit einem kleinen weißstieligen Messer zu schneiden versucht, während er an den Besteckkasten will.
„Siehst Du, wie unscharf es ist?“
Sie hält es ihm vor das Gesicht. Er kann auf dem Plastikgriff die Spuren von den Reinigungsangriffen der Spülmaschine sehen und die fast hauchdünne Klinge, die sich bei kleinster Berührung biegen lässt.
„Billig“, sagt er und zieht den Besteckkasten auf. „Hier, “ sagt er, „hier sind doch noch jede Menge andere.“
„Ja, aber gleich stumpf.“
„Warum wirfst Du dann diese billigen Dinger nicht einfach weg? Schafft doch auch Platz!“
„Du willst doch nicht, dass wir dauernd alles wegwerfen! Deine Worte! Da traue ich mich schon gar nicht.“
„Ich will nicht, dass wir billigen Schrott kaufen und wegwerfen müssen.“
„Deine angeblich so guten Messer zu Weihnachten vor fünf Jahren sind aber genau so stumpf wie hier die Billigen.“
„Dafür kann man sie schärfen lassen. Bei Lohmann. Dann halten die Jahrzehnte.“
„Hauptsache, Du hast recht und das letzte Wort!“
Er holt langsam alle Schälmesser heraus, legt sie nebeneinander auf die Platte vor den Senseo-Automat.
„Zwölf Stück und alle stumpf?“
„Ja!“
Sie hat die Tomaten fertig geschnitten und stellt sie neben die Teller auf den Küchentisch.
„Ich dachte, Du würdest den Wohnzimmertisch eindecken!“
„Ich bin dabei, wie Du siehst.“
„Was hast Du mit den Messern vor?“
„Ich hänge sie zu den anderen Utensilien an das Gerippe im Garten.“
„Du mit Deinem angeblichen Kunstwerk. Man muss sich ja schon schämen, wenn Besuch kommt.“
„Kommt ja keiner.“
„Nein, Gott sei Dank!“
„Du lädst ja lieber immer in eine Gaststätte ein und ich muss es auch tun.“
„Wundert Dich das wirklich? Außerdem, Mal wird man sich doch noch was leisten können! Ich habe auch nicht ewig Lust hier in der Küche die Gastgeberin zu spielen mit Kochen, Putzen, hinterher abwaschen und euren Dreck wegräumen.“
„Wieso Euren Dreck?“
„Ja, Ihr macht doch immer Dreck, tretet vom Garten alles ins Haus, krümelt rum, kleckert mit dem Bier. Richtig unappetitlich sowas!“
„Manchmal denke ich, wir hätten nach ihrem Tod doch noch mal mit Kindern starten sollen, neu anfangen, ja, ich denke, das wäre gut für uns gewesen.“
„Wieso das jetzt wieder? Wir wollten beide nicht, damals, hörst Du, beide … wollten … wir … das nicht!“
„Ja.“
Er nimmt die Teller, die Flasche mit dem Mineralwasser und trägt alles in die Wohnstube.
„Du hast wieder das Besteck vergessen!“
„Hole ich gleich!“
Er stellt alles auf die Kommode, zieht eine Schublade auf, holt vier Tischsets heraus und legt sie auf den Tisch. Nimmt die Fernbedienung, die dort einsam liegt, in die Hand, drückt den Fernseher an, sucht ein Programm.
„Aber keinen Krimi!“
Er nickt und hält den Sendersuchlauf bei einer Dokumentation über die NS-Zeit an, „Hitlers Henker“, sieht amerikanische Aufnahmen nach der Befreiung von Auschwitz, holt die Teller und setzt sie behutsam auf die Sets, stellt die Mineralwasserflasche auf das dritte Set neben die Tomaten, geht zur Glasvitrine, holt zwei Gläser heraus und stellt sie neben die Teller.
„Du hast wieder die Untersetzer vergessen.“
Er will sich zur Kommode zurück drehen.
„Nein, ich mach schon. Hol Du den Rest aus der Küche.“
Er nickt und geht zur Küche, holt das Brotkörbchen, stellt die Joghurts zwischen die Brotscheiben, trägt es so und zwei Teller mit Auflage in das Wohnzimmer zum Esstisch.
Sie steht dort noch immer und sieht zum Fernseher.
„Gut, dass uns das wenigstens erspart geblieben ist.“
„Ja.“
„Wir haben nur unser Baby verloren.“
„Ja.“
Er deckt zu Ende und setzt sich auf seine Seite. Sie setzt sich ihm gegenüber.
„Eigentlich geht es uns doch richtig gut dagegen.“
„Wogegen?“
„Na gegen die damals, unsere Eltern und Großeltern.“
„Ja. Dagegen geht es uns gut.“
„Was Du immer gleich hast? Natürlich geht es uns gut. Und Kinder, das sage ich Dir, sind auch nicht immer nur Spaß!“
Er blickt nach unten, runter zu seinen Füßen, sagt leise, kaum hörbar:„Vielleicht gut, dass unser Kind gestorben ist.“
„Was hast Du gesagt?!“
„Nichts, nichts habe ich gesagt. Kam aus dem Fernseher.“
Skeptisch blickt sie zu dem Flachbildschirm mit dem Aufkleber „HD“.
„Du kannst jedenfalls sagen was Du willst, uns geht es gut!“
Er nickt und nimmt sich eine Scheibe Brot.
„Und: Morgen kaufe ich neue Messer.“
„Ja. Meinetwegen.“

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