"Solche Sätze rauben mir
den Verstand." Das Gespräch im Zug kommt von einem älteren Ehepaar neben
mir. Sie sitzen zusammen mit mir in Fahrtrichtung, er am Fenster. Ich musste
alleine reisen, meine Freundin entgegensetzt fahren, auf uns beide wartete der
Montag, viel Arbeit vor Weihnachten und die Hoffnung auf ein paar ruhige Tage.
Dieses Wochenende aber waren wir zusammen auf Diddis Spuren gewesen. Zumindest einen Tag, der für schönere Ausflüge
sowieso nicht geschaffen war. Am Abend brach meine Erkältung los, auf dem
Bahnsteig, als wir uns zum Abschied küssten, da spürte ich sie in der Nase, im
Hals und im Nacken.
Wilhelmshaven. Einen ganzen verregneten
Tag lang sind wir da rumgelaufen. Eine Kasernenstadt. Breite Straßen für
Aufmärsche. Schmuck- und freudlose Häuser für Todeskandidaten. Wilhelms Flotte
ruhte da schon lange auf dem Meeresboden. Sein Kaisertitel ist immer noch vakant.
Die Stadt trägt weiter seinen Namen. Nach diesem Tag hatten wir genug davon.
Banten, ein Dorf, ihr Dorf,
das meiner eigentlichem Oma, der Mutter meiner Mutter, die ich nie kennen
lernen durfte, da sie lange vor mir verstarb,
von der es nur wenige Bilder in Diddis Haus und Boden gab, wo sonst
alles doch so gut geordnet ruhte und verpackt war und auch nicht im Nachlass
meiner Mutter, wenige Bilder also, unscharf und wenigstens Banten hätte ich mir
ansehen können, das, was nach der Eingemeindung davon noch übrig war.
„Banten, bis dorthin sind wir nicht gekommen. Aber ein
Tross von polnischen Arbeitern und ihre Familien. Oder, Neiße, Elbe und Weser
hatten sie überquert. Reichlich Junkerland durchschritten. Klein-Diddi immer am
Kopf des Zuges. Hatte Angst etwas zu verpassen. Noch träumte er nicht von
Palmen und feinkörnigen, hellen Stränden. Saftig grüne Marschen,
heideüberzogene Geesten waren ihm noch Paradies genug. Den Erwachsenen weniger.
Sie mußten sich zwischendurch bei den großen Gütern verdingen. Von nichts kommt
nichts, pflegte Paul auch später noch oft zu sagen. Paul war der Erstgeborene, Diddi
der Benjamin. Er hatte leicht lachen.
Gänsehüter hieß man sie im
Königreich Polen. Damit war nun nicht viel Brot zu machen. Im Westen erklangen
gewaltige Schmiedehämmer, Dampfluftpressen und das Fauchen der Lokomotiven.
Dorthin wollten sie, das Gänsehüten weit hinter sich lassen. Im Westen würden
sie immer noch nur die Gonschiors heißen, aber keiner je an Gänse dabei denken.
Diddi wäre gerne mit den
Gänsen gezogen. Er hatte das richtige Alter dazu. 10 Jahre war er noch in Polen
geworden, kurz nach dem Aufbruch des Trecks. 10. Was für eine Zahl. Zahlen
hatten es ihm schon immer angetan. "Ja, rechnen kann der Diddi, wenn er
sonst auch nur Flausen im Kopf hat."
Eine neue Stadt sollte gebaut
werden. Der deutsche Kaiser persönlich würde seinen Namen dafür geben. Was ist
schon ein polnischer König gegen einen deutschen Kaiser. Die Eltern nannten
ihren letzten Sohn also Wilhelm und zogen bis Banten. Diddi war nicht länger
der Benjamin, immerhin nur noch zweitjüngster und das normale Leben konnte
beginnen.“
Wir haben Banten nicht
gefunden. Es war von der Stadt verschluckt worden.
„Diddi blieb bei den Zahlen.
Das konnte er gut gebrauchen als Schiffszimmermann. Zu seinem Verdruß durfte er
trotzdem nicht auf Wilhelms waffenstarrenden Schiffen fahren. Er wurde Pionier,
durfte Balken schleppen, Brücken bauen und wieder in die Luft sprengen.
Da ertönte ein neuer Ruf.
Nach dem Wasser wollte Wilhelm auch die Luft besiegen. Zeppeline sollten aus
dem Himmel heraus schießen, bomben und siegen helfen. Diddi wollte Zeppeline
bauen. Das gab auch mehr Geld. Die Meta beim Bauer Grotewohl würde auf ihn
warten. Sparen tat sie. Sein Geld würde helfen Haus und Heim zu erwerben.
Dienstmagd auf Dauer wollte sie nicht bleiben. Diddi hatte verstanden und zog
los zum Bodensee, nach Friedrichshafen. Tausende zogen mit ihm. Wie Ameisen
sehen sie heute aus auf den alten Filmen. Groß und unbesiegbar die Luftschiffe.
Diddi zu erkennen im Gewimmel ist unmöglich. Seine Junggesellenzeit.
Hat er sich damals selbst
erkannt? Er war klein. Immer noch. Witz muß ihm geholfen haben, knorrige
Freundlichkeit. Meta würde warten. Damals war auf die Dienstboden noch Verlass.
Zumindest auf dem Lande. Wieviel Mark durfte er vertrinken, wieviel riskieren
bei einem Spaß? Meta war schlank. Stolzes Gesicht. Schöne dicke Haare. Nicht
unbedingt kuschelig. Hatte starke Arme. War einen halben Kopf größer als er.
Eine gute Eroberung, fand er. Und ihr Verhältnis zu Zahlen kam seinem sehr
entgegen. Diddi sah im Krieg die Zeppeline sich erheben. Er durfte, mußte auf
der Erde bleiben. Nichts mit Wasser, nichts mit Luft. Diddi musste aber auch
nicht als Pionier sich tief durch die Erde graben. Er war unabkömmlich. Vom
Krieg freigestellt. Selbst noch, als die Zeppeline wie Papierflieger brennend
vom Himmel fielen.“
Bombenstimmung in Osnabrück.
10 Kilo schwer und fast 50 Jahre alt. Alles ist hier abgesperrt. 800 Personen
wurden evakuiert. Und ich stehe frierend, hoch erkältet auf dem Bahnsteig und
frage mich, was wohl einstürzen würde bei einer Explosion. Warum drängten sich
die drei Polizisten so sehr in den hintersten Winkel des Gebäudes. Berechneten
sie schon den Wirkungsbereich der Druckwelle? Würde die Bombe mich und meine
Bockwurst, nirgendwo sonst so gut auf deutschen Bahnhöfen, erst zusammenfalten
und dann in Richtung Gleise schleudern? Mit oder ohne Bank?
Ansonsten ist der Bahnhof wie
immer. Überfüllt, kalt und unschön. Die Bombe hat auch kein Erbarmen mit mir
und meinen ästhetischen Bedürfnissen. Auf jeden Fall habe ich nie wieder etwas
von ihr gehört.
Meine Erkältung ist mit mir
zusammen in den nächsten Zug umgestiegen, der irgendwann rein gelassen wurde,
nach dem die Polizisten schon länger aus ihrer Ecke verschwunden waren.
Nichts hatte sich verändert.
Scheiß Bombenillusion.
(Fortsetzung folgt, (c) Jörn Laue-Weltring 2013)
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