In Nairobi war es stickig. Professor
N’quandi drückte nervös den Kopf der Fernbedienung, aber die Klimaanlage kam
gegen die Luft der Metropole nicht an.
Erwartungsvoll hockte dagegen seine
Studentengruppe vor den Bildschirmen. „Der Untergang einst großer Nationen“,
die Semesterabschlußaufgabe, war fast abgehandelt. Und bis jetzt war ihr
Professor mit den Arbeitsergebnissen über Rom, Ägypten oder die UdSSR sehr
zufrieden gewesen. Die Semesterferien waren also fast erreicht und
wahrscheinlich nutzte N’quandi diese für ein Buch über ihr Thema, in dem er
ihre Ergebnisse ausschlachtete, vielleicht würden sie ausnahmsweise sogar
namentlich erwähnt.
Dimitri Wassili, ein deutscher
Gaststudent, dessen Stipendium vom „Fonds für verarmte Nationen“ finanziert
wurde, war als letzter dran. Er sollte über den Niedergang seines Heimatlandes
Deutschland von einem der reichsten zu einem der ärmsten Länder der Welt
berichten. Um ihn herum waren alle neugierig auf seine Untersuchungsergebnisse,
denn noch immer diskutierte die Fachwelt leidenschaftlich und äußerst
kontrovers die Ursachen dieses in der neueren Geschichte wohl einmaligsten Fall
eines tiefen Absturzes. Bisher hatte keine Erklärung dafür eine größere
Resonanz oder Anerkennung finden können.
Entsprechend nervös begann Dimitri. Er
hatte, da war er sich sicher, einige bisher unbeachtete, seiner Meinung nach
exemplarische Phänomene aufgedeckt, die ihm schlußendlich eine Lösung geradezu
aufgedrängt hatten. Würden sich aber die anderen davon überzeugen lassen,
würden sie gleich ihm die Tragweite erahnen? Erschwerend für ihn war die
deutschkritische Haltung N’quandis, wenn der auch Dimitri damit bisher
verschonte, da Dimitri russischer Abstammung und somit Teil einer Gruppe war,
die noch zu den intelligenteren und leistungswilligeren seines Volkes zählte.
Ansonsten galten die Deutschen allgemein als ungebildet, roh und lethargisch.
Auf allen Bildschirmen leuchtete groß
das Jahr „1999“ und darunter der
Name eines Bundeslandes auf:
Der Fall Niedersachsen.
Vorbemerkungen von
Dimitri Wassili.
Sie finden im Folgenden aufhellende Beispiele,
nicht den einzigen wahren Anfang der deutschen Misere. Der Fall Niedersachsen
ist vielleicht nur die erkennbare Spitze eines Eisberges, besonders einfach
nachzuvollziehen, warum dieses einst für sein „Volk der Dichter und Denker“
gepriesene Land innerhalb weniger Jahrzehnte geistigen Konkurs anmelden mußte.
Ich schreibe mußte, und hoffe dies anhand meiner Funde zumindest ansatzweise
belegen zu können.
Alle schwiegen und lasen. Dimitri kam
es so vor, als wenn eisige Lüftchen den stickigen Atem Nairobis im Raum
durchschnitten. Wollte ihnen Dimitri allen Ernstes sagen, er hätte geschafft,
was allen anderen bisher verwehrt blieb: eine Lösung zu finden? Auch Professor
N’quandi starrte kalt auf Dimitris Sätze. Er kannte Dimitris Ehrgeiz. Er
verstand auch, zumindest meinte er das, seine Motive. Vielleicht hätte er ihm
doch lieber ein Thema geben sollen, das weniger mit ihm und seiner tragischen
Situation als deutscher Gaststudent zu tun hatte. Er hoffte für Dimitri, daß
der in seiner Betroffenheit nicht über seine studentischen Anfängerfähigkeiten
hinausgeschossen war.
1999
fand ein von den damaligen Medien fast unbeachtetes Ereignis statt. Es war eine
Schulreform. Sie betraf die Klassen 1 – 4 der 1800 Grundschulen des Landes.
Viele, aber noch längst nicht alle, hatten sich bis zu dieser Reform in einem
jahrelangen Prozeß zu Halbtagsschulen entwickelt, die auf eine neue Art auf die
veränderten Umweltbedingungen der Kinder mehr Rücksicht nehmen sollten. Seit
den 50er Jahren hatte die Bedeutung der Schulen als Lernort ständig abgenommen
und betrug in den 90er Jahren gerade noch 10 %. Die technologische Aufrüstung
in den Kinderzimmern mit einem Überangebot an Medien und die Dominanz derselben
im Familienleben stattete die Kinder bereits vor Eintritt in das Schulleben mit
Erfahrungen und Wissen aus, wie sie in den 50er Jahren vielleicht gerade mal
nach 8 – 9 Schuljahren erreicht worden waren. Gleichzeitig gingen Erfahrungen
im sozialen und handwerklichspielerischen Bereich drastisch zurück. Darauf
hatte das Konzept der Halbtagsschulen mit AG-Angeboten, Spiel- und Lesemöglichkeiten
reagiert. Gegenüber der schnellen Außenentwicklung stellte diese Schule den
Kindern Kontinuität zur Verfügung. KlassenlehrerInnen wurden neben den Eltern
zu wichtigen Bezugspersonen der Kinder. Phantasie, Kreativität und Lust auf
eigenes Handeln wurden gestärkt oder überhaupt erst ermöglicht. Die Kinder
erhielten so eine Chance zur Emanzipation von der alles und jeden Bereich
bestimmenden Medienhoheit. Nicht zuletzt war es sogar gelungen, Eltern in
diesen Prozeß als aktive, verständige Partner miteinzubeziehen.
Dieser Weg sollte nun plötzlich aufgegeben werden.
Statt dessen begann die „verläßliche Grundschule“, ein Konzept, das im wesentlichen
darauf basierte, daß die Eltern ihre Kinder verläßlich von 8 Uhr morgens bis 13
Uhr mittags außer Haus hatten. Um dies zu finanzieren, wurden Lehrkräfte
gestrichen und „pädagogisch nicht ausgebildete aber interessierte“
Teilzeitkräfte eingestellt. Diese sollten vor allem die soziale Betreuung der
Kinder gewährleisten. Wurden Lehrer krank, so übernahmen diese interessierten
Laien die Vertretungsstunden. Die Bevölkerung des Landes fühlte sich aber davon
nicht negativ betroffen, da kaum jemand die Folgen erahnte, oder erahnen konnte
? Sie verstand nicht, was sich hinter diesem Umschwung verbarg.
„Ich auch nicht,“ tippte der
Kommilitone aus Vietnam in den PC. Dimitri reagierte nicht, ließ den Bericht
weiter ablaufen:
Hintergrund dieser Reform war die Finanzknappheit
der Länder. In Wirklichkeit hatten die Landesregierungen, die in Deutschland
für die Bildung zuständig waren, pädagogisch kapituliert. Nach dem Motto „rette
sich, wer kann“, wurden überall Konzepte aus dem Boden gestampft, in hübschen
Broschüren eilig unter das Volk gestreut, die nach außen Fortschritt, in
Wirklichkeit aber weniger Ausgaben brachten. Das wäre vielleicht weniger
tragisch ausgegangen, wäre das Land nicht so stark von seiner Bildung abhängig
gewesen. Außer dieser nämlich besaß es so gut wie keine „Rohstoffe“. In
Jahrhunderten gewachsene Bildungsstrukturen hatten dem Land sogar nach seiner bis
dahin größten Katastrophe, dem Zweiten Weltkrieg, schnell wieder zu Wettbewerbsvorteilen
und einem raschen wirtschaftlichen Aufstieg verholfen. 1999 nun fand der
Wechsel zum Primat der Ökonomie statt.
Jetzt schüttelte N’quandi doch den
Kopf. Er sah sich in seinen Befürchtungen bestätigt. Dimitri schien
dilettantischen Phantastereien aufgesessen zu sein. Eigentlich müßte er jetzt
eingreifen, bevor Dimitri sich vor den anderen völlig bloßstellte. Aber als er
Dimitri ganz entspannt dasitzen sah, ließ er ihn weitermachen.
Das Neue sah
so aus: die Schulen bekamen eigene Mittel in die Hand, ungefähr 5% ihres
Haushaltes, die sie selbst verwalten durften. Das sah nach mehr Autonomie und
Handlungsfreiheit aus. In der Folge wurden aber nur weiter die Ausgaben für
qualifiziertes Lehrpersonal reduziert und das mit einem steigendem, wenn auch
nur leichten, Anstieg der „frei“ zu verwaltenden Gelder übertüncht. Die
Schulleiter, zuerst begeistert über ihren größeren Handlungsfreiraum und die
neuen Aufgaben, gerieten in die Rolle von mittelständischen Betriebsleitern,
die statt hochqualitativer Menüs am Ende Fast-Food produzieren ließen. Sie
dachten bald nur noch in Marktsegmenten und fanden heraus, daß ihre Schulen
finanziell am besten überlebten, wenn sie wie Billigmärkte das
Niedrigpreissegment bedienten. Hatten die Grundschulen, ihrem Namen gemäß, bis
dahin die Grundlagen des Lernens und der Allgemeinbildung gelegt, gingen sie
nun dazu über, die außerhalb aufgesammelten Wissens- und Erfahrungstrümmer,
bzw. Splitter, der Kinder zu verwalten, sie sich also sich selbst und einer nur
auf Ordnung bedachten Betreuung zu überlassen. Es kam in der Folge zu lautstarken
Kämpfen in der Schule zwischen pädagogischem und anderem Personal. Die Betreuer
warfen den Lehrern vor, nur noch Schreckgespenster für die Kinder mit ihrem
Anspruch der Wissensvermittlung zu sein. Computer könnten ihre Aufgaben ebenso
gut erfüllen. Es dauerte nicht lange und die Landesregierungen griffen diesen
Vorschlag auf. Die Aus- und Weiterbildungseinrichtungen des Landes für Lehrer
wurden alle geschlossen. Die Schulen erhielten elektronische Einrichtungen und
als letzter Schritt wurde, offiziell wegen Ausgewogenheit, auch das
Betreuerpersonal auf Null reduziert. Dafür wurden jetzt mehr Hausmeister
beschäftigt, die gleichzeitig auch die Elektronik bedienen konnten. Diese
kontrollierten in unregelmäßigen Abständen die Klassenräume, riefen bei zu
lautstarken oder handfesten Erscheinungen die Polizei und wurden am Ende
ebenfalls ersetzt, durch Fremdfirmen. Der Schulleiter blieb als letzte feste
Kraft in der Schule zurück. Wach- und Schließgesellschaften patrouillierten,
ein Service-Dienst kam für die Geräte. So blieb den Regierungen nur noch eine
Sparmöglichkeit: die Schulen ganz abzuschaffen. Auch dieses geschah wieder
durch eine Reform. Da die Arbeitslosigkeit inzwischen so groß geworden war, daß
in den meisten Familien ein Elternteil den ganzen Tag zur Verfügung stand,
nannte man die Reform: „die verläßliche Elternschule“. PCs standen in den
Haushalten sowieso zur Verfügung, Unterrichtsinhalte konnten über das Internet
abgerufen werden und Polizei und PC-Service erübrigten sich wieder. Der
Schulleiter wurde ersetzt durch eine Bürokraft, die lediglich die Buchführung
übernahm, welche Kinder offiziell in welchen Lernstufen zu sein hatten.
Professor N’quandi sprang auf.
„Thesen, Behauptungen, wirres Zeug!“ Sein Ausbruch kam nur für Dimitri völlig
überraschend. Einige Kommilitonen hatten bereits länger zu N’quandi gesehen,
wie er wohl reagieren würde. „Fast-Food!" brüllte N’quandi zornig.
"Und so etwas will Wissenschaftler werden. Ein Volk, das durch eine
Schulreform planmäßig in den Untergang zieht! Ich sage Ihnen, lieber Dimitri,
glauben Sie es oder nicht: kein Volk ist so dämlich, so völlig bescheuert,
seine Kinder aus der öffentlichen Bildung herauszunehmen, nicht einmal die
Deutschen!“ Alle nickten, nur Dimitri sah den Professor erstaunt an.
Ich kann es belegen, jeden Satz. Mit der Bildung ging es aber auch
dadurch bergab, daß sich immer mehr der Eindruck verbreitete, Bildung lohne
sich nicht, da ja immer mehr arbeitslos würden. Für die Anbieter von Software
und Medien war es einige Jahre ein großartiges Geschäft. Warum sollte sich also
großer Widerstand geregt haben?
N’quandi beruhigte sich. Wie kam er
dazu sich über einen jungen Studenten so aufzuregen? Am Abend ging er noch
einmal alleine Dimitris Arbeit durch. Je mehr er die Quellen studierte, um so
unruhiger wurde er und er konnte sich nicht länger des Eindrucks erwehren, daß
diese Deutschen vielleicht tatsächlich doch so ........!
Ps.:
„Bild 102-11038
Ps.:
Orginalunterschrift zum Bild:
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